Über die Story
Das Zimmer war blau, blau wie Lauge, hatte er eines Tages gedacht; ein Blau, das ihn an seine Kindheit erinnerte, an die kleinen Etaminbeutel mit blauem Pulver, die seine Mutter vor dem letzten Spülen in den Zuber schüttete, bevor sie die Wäsche auf dem leuchtenden raus der Wiese auslegte. Er musste damals fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, und hatte sich gefragt, durch welches Wunder die blaue Farbe die Wäsche weiß machte.
Das blaue Zimmer befindet sich in dem Hotel von Antoines Bruder. Das blaue Zimmer, Tonys Inbegriff von Leidenschaft und Verderben, hat er elf, zwölfmal benutzt – hier spielte sich die Schlüsselszene ab, die das Schicksal von mindestens fünf Menschen verändern sollte.
Angefangen hat es damit, dass Andrée ihn eines Tages auf der Landstraße anhielt, weil sie eine Panne hatte. Die Frau kannte er schon aus seiner Kindheit. Sie war größer als er und stammte aus einem, sagen wir mal, hochnäsigem Haushalt. Antoine, Tony genannt und italienischer Abstammung, verlor sein Herz schnell an die Frauen, Andrée ließ er links liegen, sie kam ihm so unnahbar vor. An dem Abend, als er von ihr angehalten wurde, änderte sich das. Ein kurzes Geplänkel, dann ging es, um es salopp zu formulieren, im Straßengraben zur Sache. Tony ahnte nicht, dass dieser Seitensprung Folgen haben würde, die vorherigen Seitensprünge waren einfach nur Gelegenheiten… Die konnte ihm seine Frau nicht übel nehmen.
Sein Haus stand links am Hang auf halber Höhe, es war von einem Garten umgeben und durch eine Wiese von dem alten grauen Haus mit Schieferdach getrennt, das den Schwestern Molard gehörte. Dann kam die Schmiede und schließlich, hundert Meter weiter unten, das Dorf mit richtigen Straßen; die Fassaden der Häuser stießen aneinander, es gab kleine Cafés und Läden. Die Einwohner mochten das Wort Dorf nicht und sagten dafür Marktflecken. Es war ein großer Marktflecken mit 1600 Einwohnern, ohne die drei Weiler mitzuzählen, die eigentlich dazugehörten.
Von diesem Tag an trafen sich Andrée und Tony im blauen Zimmer: es ging eigentlich nur um Sex. Zumindest für Tony. Andrée, verheiratet mit dem Besitzer des Dorfladens, sah das ein bisschen anders. Sie maß der Antwort auf ihre Frage, ob sich denn Tony ein Leben mit ihr vorstellen könne, ganz andere Bedeutung bei als dieser, der einfach nur »Sicher« sagte. Für ihn war es Leidenschaft am Donnerstag, die zur Ernüchterung wurde, als er eines Tages den Mann Andrées auf das Hotel zukommen sah und er, wie in einem Film, die Flucht ergreifen musste.
Tony kam auf den Boden der Tatsachen zurück und stellte seine Rendezvous mit Andrée ein. Er machte erst mal mit seiner Familie Urlaub an der See, etwas, was er schon Jahre nicht mehr getan hat. Kommt zurück ins Dorf, zur Arbeit und versucht seine Affäre zu vergessen.
Man kann auch Andrée verstehen: ihr Mann, der dröge Lebensmittelhändler, gibt ihr nicht das Leben, was sie braucht. Verheiratet hat sie sich nur auf Wunsch ihrer Mutter, die ihre Tochter gut verheiratet sehen wollte. Darüber war auch die Mutter von Nicolas froh: war doch Andrée nicht schlecht anzusehen und arbeitete in dem Haushalt mit. Allerdings bereute das die Mutter wohl kurz darauf: Andrée übernahm das Kommando in dem Haushalt. Nicolas war ein kränklicher Typ, der immer wieder an Epilepsie litt und jeder seiner Anfälle brachte den Tod näher.
Tony betrachtete sich als Freund von Nicolas – in der Schulzeit war dieser aufgrund seiner Anfälle ein Außenseiter. Tony war auch ein Außenseiter: er war Ausländer. Das machte sie nicht gleich: der arme Hund aus einer Ausländerfamilie und der Junge mit dem Schaum vor dem Mund aus der reichsten Familie am Ort konnten nicht gleich sein, aber Tony sprang Nicolas in brenzligen Situationen auf dem Schulhof schon mal bei. Jetzt, Jahre später, fühlte er so etwas wie Verrat an seinem Freund.
Die Geschichte von Tony sind Rückblenden in Gesprächen mit seinem Untersuchungsrichter, dem Psychiater und seinem Rechtsanwalt. So wird die ganze Geschichte um das blaue Zimmer aufgerollt und nach und nach erfährt der Leser, was passiert ist, warum Tony diese Geschichte ausgerechnet diesen Staatsautoritäten erzählen muss. Dabei ist erstaunlich, dass man glaubt, dass selbst Tony sehr erstaunt ist und nicht glaubt, was passiert ist und was um ihn herum passiert. Da man nicht genau weiß, was passiert ist, es höchstens erahnt ist man gezwungen weiterzulesen. Man darf sich so seine Gedanken machen, denn es wird zwar ein Urteil über Tony gefällt, aber ob das das richtige ist?