Über die Story
Der Fehler ist nur allzu menschlich: aus Bequemlichkeit lässt man sich zu einer Lüge hinreißen, sieht die Sache als erledigt an und dann reiten andere Leute hartnäckig auf der Tatsache herum, so dass man sich gezwungen sieht, immer weiter herumzuspinnen. In diese Falle tappt auch Jonas Milk, der in einer kleinen französischen Stadt lebt, und sich dort sehr wohl fühlt. Diese Lüge, die er aus Bequemlichkeit in die Welt brachte, sollte ihm das Leben gehörig schwer machen.
Gina verschwand von einem Tag auf dem anderen. Jonas Milk sah vorher keine Anzeichen, konnte auch keine Erkennen, als er die Tatsache realisiert hatte. Vielleicht glaubt er wirklich, dass Gina, wie er es den Leuten erzählte, zu ihrer Freundin gefahren ist. In erster Linie war es, wie ich schon erwähnte, Bequemlichkeit. Es hätte lästige Nachfragen gegeben, wenn er auf die Frage, wo Gina sei, geantwortet hätte, dass seine Frau am Abend vorher nicht nach Hause gekommen wäre. Dann hätten sie nicht nur nachgefragt, sondern ihn auch gebeten, das Verschwinden der Polizei zu melden - die Sache wäre in der kleinen Welt, in der er lebte, schnell herum und es würde ordentlich darüber getratscht werden. Die Polizei würde, so man ihr den Fall melden würde, bei ihm auftauchen und sein Leben mit Fragen, auf die er keine Antworten hätte, durcheinanderbringen. Nein, Jonas Milk schien die Antwort, dass sie zu einer Freundin gefahren sei, eine gute Möglichkeit, seine Ruhe zu haben.
Wer ist Jonas Milk? In den Wirren der russischen Revolution verlor er seine Eltern, lebte im französischen Exil. Anpassung war seine Devise, nicht auffallen. Sein Lebenstraum hatte sich erfüllt: Er lebte unter Franzosen in einer kleinen Stadt und wurde anerkannt. Milk hatte die Gewohnheiten eines Franzosen und liebte seinen Buchladen und seine Briefmarkensammlung. Lange Jahre hatte er allein gelebt, dann fragte er seine Reinigungskraft, ob sie nicht Lust habe, ihn zu heiraten. Liebe? Nein, Liebe war zwischen den beiden Eheleuten nicht. Sie haben sich zusammengerauft, eine Zweckgemeinschaft gebildet.
Wenn man es hart formuliert, könnte man sagen, dass Jonas Milk jetzt das Geld für eine Putzfrau sparte und Gina dem elterlichen Haushalt entkam, der sie zusehends nervte. Vielleicht kam sie von dem Regen in die Traufe. Milk ist introvertiert, geht nicht aus sich heraus; Gina, italienischer Abstammung, fehlte vielleicht das Turbulente eines Großfamilienhaushalts.
Bald schwant dem Buchhändler, dass seine unehrliche Antwort am ersten Tag, eine ganze Reihe von Problemen nach sich ziehen kann. Denn Gina kam nicht wieder und die Leute erkundigten sich weiter. Eigentlich war es auch nicht anders zu erwarten, Gina war Teil des Marktes, einer Gemeinschaft, da lässt man sich nach ein paar Tagen nicht weiterhin mit der Antwort abspeisen, sie wäre noch bei der Freundin, zumal sie mittlerweile sehr unwahrscheinlich war.
So macht sich Milk viel zu spät auf den Weg, um das Verschwinden seiner Frau zu melden. Schon nach den ersten Verhören setzt sich bei den ermittelnden Beamten der Verdacht fest, dass Milk seine Frau umgebracht haben könnte. Der Leser weiß, dass dieser Verdacht abstrus ist, aber wenn man im Leben einer Person herumstöbert, finden sich Anhaltspunkte für die verschiedensten (meist auch widersprechenden) Verdächtigungen. Bei Milk lief es, nachdem man angefangen hat, herumzuwühlen, nicht anders.
Was war nun schlimmer: der Verlust der Frau, die er nicht geliebt hat, die Teil seiner Routine war; das Verhalten der anderen Marktplatzbewohner, die in ihm einen Verbrecher sahen, oder der Verlust seiner Briefmarkensammlung? Gina war gegangen, dass wusste Milk seit dem Tag, an dem er feststellen musste, dass sie seine Briefmarkensammlung - ohne Frage sehr wertvoll - hat mitgehen lassen. In einer sorglosen Minute hatte der Sammler seiner Frau erzählt, dass diese Sammlung sehr wertvoll war und ihr auch den Wert für einige Briefmarken genannt.
Verschwiegen hat er ihr, dass es einen Unterschied zwischen Wert und Preis gibt. Wenn eine Sache so selten ist, wie so manche Briefmarke, dann lässt sie sich schwer verkaufen, weil die Sammler untereinander wissen, wer was besitzt. Versucht ein Fremder zu verkaufen, ist Skepsis angebracht. Gerät sie an ein Schlitzohr, mag sie die Briefmarken verkaufen können, aber nur unter Wert - nie würde sie die Beträge bekommen, die ihr ihr Mann genannt hat.
Dieser hat derweil ganz andere Probleme: Die Ermittlungen erbringen keine konkreten Anhaltspunkte, was den Verdacht der Mitbürger nur erhärtet.