Zwischen den Stühlen
Maigret hatte es nach Caen verschlagen, einem Provinzstädten in der Normandie. Er sollte die örtliche Polizei reorganisieren. Der Kommissar vom Quai galt schon als »Star« und wurde deshalb von der Staatsanwaltschaft mit einem heiklen Fall betraut – denn einerseits gab es da einen reichen Mann, der eines Verbrechens bezichtigt wurde. Auf der anderen Seite eine junge Frau, den reichen Mann verdächtigte, aber die linke Presse auf ihrer Seite haben könnte. Sah ganz so aus, als würden sowohl der Staatsanwalt wie auch Maigret zwischen den Stühlen sitzen.
So war auch die Anweisung vom Staatsanwalt an Maigret unmissverständlich:
»Familienangelegenheit. Cécile Ledru verhören, aber mit der allergrößten Vorsicht vorgehen.«
Eine Familienangelegenheit bei der mit der allergrößten Vorsicht vorzugehen war? Der Kommissar war verwirrt. Dieses Gefühl sollte sich noch verstärken, als er die Geschichte von Mademoiselle Ledru gehört hat. Sie berichtete, dass sie vor dreizehn Jahren in den Haushalt von Madame Croizier aufgenommen worden war, zuerst als Haushaltshilfe, später – nachdem sie die Witwe ins Herz geschlossen hatte – als Gesellschafterin. Sie verdankte der Frau nicht nur ein staatliches Einkommen, sondern auch einen Bildungsaufstieg, konnte sie doch beim Eintritt in den Haushalt nicht einmal lesen.
Die alte Dame hatte sich von Bayeux nach Caen in zahnärztliche Behandlung begeben und wohnte in der Zeit in der Villa ihres Neffen. Bevor sie Bayeux verließ, hatte Joséphine Croizier nach der Aussage von Cécile Ledru gesagt, dass sie, wenn ihr etwas in Caen zustieße, ermordet worden wäre. Von wem, dass ließ sie offen, brauchte sie aber nicht – der Verdächtige war der Neffe, der seit Jahr und Tag unter Geldmangel litt, trotzdem aber zu den Großen der Stadt zählte. (Was daran lag, dass er vor langer Zeit eine reiche Frau heiratete, aber deren Vermögen mit unglücklichen Spekulationen auf Null gebracht hatte.)
Interessant war außerdem, wie die alte Dame zu ihrem Geld gekommen war: Ihr Mann war einfacher Schreiber bei einem Anwalt, aber sehr vorsichtig. Er schloss bei jeder Gelegenheit Versicherungen auf sein Leben ab. Da machte er seine erste größere Reise in seinem Leben, eine Schiffsreise nach England zudem, und wurde sogleich zum Leistungsempfänger. Croizier wurde während eines Sturms unglücklich gegen die Reeling geschleudert und erlitt einen Schädelbruch. Zu Lebzeiten für seine Vorsicht belächelt, brachte dieser Unfall seiner Witwe ein Vermögen ein. Was sie zu allem Überfluss noch zu mehren wusste.
Für Maigret war das nicht viel: Die Aussage einer Gesellschafterin, die von ihrer Dame einen »Tipp« bekommen hat. Trotzdem machte er sich auf den Weg zum Trauerhaus.
Dort kam es auch zu einem Gespräch mit dem Neffen – dieser wies die Vorwürfe empört zurück und gab zu Protokoll, dass Cécile einen Freund hatte, der kurz vor der Pleite stände. Zudem hatte er seine Tante informiert, dass ihre Gesellschafterin schon seit längerer Zeit ihren Freund nachts in den Haushalt einschmuggelte. Die alte Dame – ein bisschen prüde – war natürlich empört. Der Neffe berichtet von einem Bruch zwischen den beiden Frauen.
Nach diesem Gespräch ging Maigret zum Staatsanwalt und sagt diesem, er wisse zwar nicht, wer die Dame umgebracht habe, aber ein Gefühl sage ihm, dass sie auf natürliche Art und Weise nicht gestorben ist.
Sein Auftrag blieb der gleiche: Er solle vorsichtig ermitteln und kein Porzellan zerdeppern. Das gelang dem Kommissar nur leidlich.