Über die Story
Lange habe ich nach dieser Erzählung gesucht, mich gefragt, gibt es sie überhaupt. Nun bin ich Dank eines Hinweises fündig geworden, allerdings an einer Stelle, an der ich nie gesucht habe. Diogenes hat die Erzählung in den »Meistererzählungen« untergebracht. Aber ist es auch eine Meistererzählung?
Nun war ich natürlich ziemlich gespannt auf die Aussage des Ministranten.
Justin ist der Ministrant. Es war in der dunklen Jahrezeit, um sechs Uhr war es noch duster wie nichts und der Junge war in den Augen von Maigret ein Held, er machte sich Morgen für Morgen auf dem Weg, die Häuserwände meidend, sich von Bäumen fernhaltend, denn er hatte Angst. Aber er blieb nicht zu Hause!
So machte er sich arglos auf dem Weg, vor sich hin brabbelnd, übend, seine Mutter zu überzeugen, sie möge ihm ein Fahrrad kaufen, von dem er so lange träumt, für das er schon eine gehörige Summe angespart hätte, als er um ungefähr fünf vor sechs auf eine Leiche stieß. Nicht nur auf die Leiche, sondern auch auf den Mörder. Dessen Augen funkelten ihn aus der Dunkelheit an.
Er rannte zu seiner Kirche und ließ eine Oberin, zitternd wie Espenlaub seine Entdeckung bekanntgebend, die Polizei rufen. Unglücklicherweise glaubte sie ihm kein Wort, denn weder konnte die Polizei irgendeine Leiche entdecken, noch hat irgendein Nachbar etwas Verdächtiges bemerkt. Die Inspektoren sind der Meinung, dass Justin eine Tracht Prügel verdient hätte, um ihm solche dummen Aussagen auszutreiben (ja, so war das damals), Maigret hört sich die Aussage des Jungen am Abend nochmals an und stolpert über ein Detail:
»Zuerst habe ich einen Mann ausgestreckt am Boden liegen sehen, und er kam mir so groß vor, dass ich hätte schwören können, er nehme die ganze Breite des Gehsteigs ein.«
Das war unmöglich, denn der Gehsteig war mindestens zweieinhalb Meter breit.
Leichen sehen immer größer aus, als sie sind. Das weiß Maigret. Maigret glaubt auch zu wissen, das Kinder nichts erfinden. Kinder schmücken aus, ergänzen Geschichten um ihnen genehme Aspekte, aber es gibt immer einen Auslöser in der Realität. Das bedeutet für Maigret, trotz aller Skepsis, dass dort wirklich eine Leiche lag und Justin diese gesehen hat. Verschwunden ist sie erst später, wenn auch innerhalb von Minuten.
Maigret geht mit dem Jungen die Strecke ab, lässt sich alles zeigen und macht sich im Anschluss daran, Zeugen zu befragen. Er findet auch alsbald Widersprüche in den Aussagen der Anwohner der Straße, in der die Leiche gelegen haben soll.
Bei der Ermittlung an dem frühen Morgen hat sich der Kommissar eine Erkältung zugezogen, die ihn nun zwingt, die Ermittlung vom Bett aus weiterzuführen. Bei steigendem Fieber bekommen nicht nur die Inspektoren Maigrets das Gefühl, der Kommissar würde fantasieren, auch Madame Maigret beschleichen leichte Zweifel.