Über die Story
Es kann jeden treffen. Vielleicht ist die Wahrscheinlichkeit, wenn man wie Tom Cruise aussieht, etwas geringer, aber weicht man ein wenig von der Norm ab, ist es gar nicht so unwahrscheinlich, dass man von der Gesellschaft sehr kritisch beäugt wird und sich ausgeschlossen fühlt. Dazu gehört nicht viel: man muss nur kleiner als der Durchschnitt sein, kräftiger von der Statur als der Durchschnitt und dann noch wenig Haare haben. Als Mann wirkt man dann weich. Solche Männer haben in Simenons Romanen und Erzählungen einen schweren Stand: sie arbeiten in dunklen Kellern, meist allein und sind damit beschäftigt, diskrete Briefe zu versenden, deren Inhalt leicht variiert. In den einen finden sich Postkarten zum Ausmalen, die als Anleitung zum Malen verkauft werden (»Malen nach Zahlen«), in anderen findet sich erotische Literatur und dazu passendes Bildmaterial. Andere Männer, die auch gewichtig sind, aber mehr an Größe zu bieten haben, kommen in Simenons Werk besser weg: das beste Beispiel dürfte Maigret sein.
Aber zurück zu dem beschriebenen Typus: er fiel mir das erste Mal in der Erzählung »Une erreur de Maigret« auf, und sollte von da an, immer mal wieder kehren. Das letzte Mal lief mir eine solche Erscheinung in der Erzählung »Monsieur Safts Schicksal« über den Weg. In der ersteren Erzählung hatte der Kommissar das unbändige Verlangen, dem Besitzer eines zwielichtigen Buchladens die Faust ins Gesicht zu schlagen. Er konnte nicht sagen, dass dieser Besitzer sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatte. Er war ihm einfach unsympathisch. Das war Grund genug, mit dem Kommissar zu fühlen und diesen Mann mitzuverurteilen. Eigentlich ist einem Monsieur Saft (aus einer Non-Maigret-Erzählung) auch nicht sehr sympathisch. Hier fühlt man mit dem Charakter allerdings mit: er war geschlagen mit seinem Äußeren, auch wenn seine Tätigkeit ihm nicht gerade Sympathiepunkte einbrachte. Das ist es: es geht immer um Sympathie. Die Kunst besteht darin, dass der Leser mit einer unsympathischen Figur Mitleid hat. Dieses Kunststück gelingt Simenon in der Erzählung über Monsieur Saft. Und es gelingt ihm in dem Roman »Die Verlobung des Monsieur Hire«.
Der Mann, der einem von dem Diogenes-Cover entgegenblickt (Michel Blanc in einer frz. Verfilmung aus dem Jahr 1989), ist klein. Er hat auch wenig Haare. Man kann allerdings nicht sagen, dass er sehr kräftig wäre. Er sieht nach einem kleinen, unauffälligen Mann aus, der gut als Buchhalter durchgehen könnte. Das ist Monsieur Hire nicht (womit ich nichts über die Qualität des Films gesagt habe, der bei uns zu Hause noch als Videokassette auf Besichtigung wartet. Allerdings, um noch eine Nebenbemerkung einzustreuen, lese ich lieber zuerst das Buch und rege mich im Anschluss darüber auf, wie ungenau die Verfilmung des Werkes gelaufen ist. Man braucht halt seinen Spaß.). Der Monsieur Hire von Simenon ist ein Mann, wie er im ersten Absatz geschildert wurde: dick, klein und ohne Haare. Man schaut ihn an und denkt sich, wenn ich den anfasse, da glitsche ich ab – quallenartig würde ich es nennen. Er ist einer der Typen, die ein florierendes Unternehmen betreiben. In kleinen Zeitungen inseriert er und bietet den Lesern an, dass mit seinem kleinen Paket der Weg zum richtigen Zeichnen beschritten werden könne. Was er seinen Kunden dann zusendet, ist allerdings etwas ganz anderes: Postkarten zum Ausmalen. Fein, da freuen sich die Empfänger, dass sie mal was richtig Schönes bekommen haben. Dieser Mann kommt abends nach Hause und macht es sich in seinen eigenen vier Wänden bequem. Er ist noch etwas und dann widmet er sich seinem Privatvergnügen.
Er stellt sich ans Fenster und betrachtet eine Nachbarin durch das Fenster. Die widmet sich sehr ausführlich ihrer Nachttoilette, zieht sich gemächlich aus – salopp formuliert, bietet sie Monsieur Hire eine wirklich gute Show. Für nichts, könnte man sich denken. Monsieur Hire, und man kann es sich bildlich vorstellen (vorausgesetzt man vergisst den Darsteller vom Diogenes-Cover), gehen die Augen über. Jeder denkt sich, Moment mal, eigentlich müsste das gute Mädchen das doch mitbekommen, dass sie von einem Spanner beobachtet wird. Gar nicht so falsch gedacht! Dann steckt vielleicht Absicht dahinter.
Seinen Sonntag verbringt Monsieur Hire damit, dem jungen Mädchen und ihrem Freund zum Fußballfeld zu folgen. Unauffällig, so unauffällig ein so kräftiger Mensch sein kann, sucht er die Nähe der beiden. Der Freund scheint nichts zu merken, das Mädchen wirft aber hin und wieder einen Blick zu ihm und scheint ihm Zeichen zu geben. Fassen wir es zusammen: Monsieur Hire ist verliebt.
So merkt er nicht, dass sich um ihn herum etwas zusammenbraut. In unmittelbarer Umgebung seiner Wohnung wurde ein junges Mädchen ermordet. Die Concierge hat ihn in Verdacht und scheut sich nicht, diesen Verdacht der Polizei mitzuteilen. Diese denkt in dem gleichen Muster wie der geschätzte Leser: ein dicker, weicher Mann, der zu allem Überfluss einem anrüchtigen, wenn auch nicht verbotenem Geschäft nachgeht, ist dabei, sich einem jungen und appetitlichen Mädchen zu nähern, das schon einen Liebhaber hat. Dieser Mann ohne Charme kann es nur gewesen sein, der das Mädchen umgebracht hat, zumal die Concierge auch Stein und Bein schwören mag, dass es Monsieur Hire war, der zu später Stunde Einlass in der Haus begehrte.
Monsieur Hire verstrickt sich: als er mitbekommt, dass er verfolgt wird und ihm auch noch eine Zuladung des Kommissars zugestellt wird, bricht er in Panik aus. Er beschließt zu fliehen und will dabei seine Angebetete mitzunehmen. Dem Leser ist klar, dass in dieser Geschichte jeder auf dem Holzweg ist.
Mit »Die Verlobung des Monsieur Hire« haben wir es mit einem Thema zu tun, dass Simenon nicht fremd ist, allerdings wird die Geschichte sehr flüssig und spannend erzählt. Das Ende, soviel sei verraten, verspricht für Simenonsche Verhältnisse fast schon »Action« (wie würde es in gängiger Kinowerbung heißen: spannende Verfolgungsjagden und aufregende Stunts). Dieses Buch gehört auf jeden Fall zu den Büchern von Simenon, die man gelesen haben muss.