Eine irgendwie amüsante Geschichte
Phase 1
Zu Lucas wollte er nicht, Madame Maigret war nicht zu Hause sondern betreute ihre Schwester im Elsass. Er hatte unterwegs Schnecken gesehen, lecker eingelegt, so dass einem das Wasser im Munde zusammenlief – wenn man denn Schnecken mochte – und er suchte sich ein Restaurant, wo er Schnecken bekommen konnte. Er ließ es sich richtig gut gehen und schlenderte im Anschluss über die Boulevards nach Hause – in die leere Wohnung.
»Ich bin froh, dass Sie wieder zu Hause sind. Ich habe es schon viermal versucht. Ich habe Lucas angerufen, der mir gesagt hat, dass Sie im Kino seien. Aber ich wusste nicht, in welchem...«
Torrence schien verwirrt und nicht zu wissen, womit er anfangen sollte.
»Es handelt sich um Janvier...«
War es die Reaktion? Maigret schlug unbewusst seinen brummigen Ton an, um zu fragen:
»Was will Janvier denn?«
»Man hat ihn vorhin in Cochin transportiert. Eine Kugel hat ihn mitten in die Brust getroffen.«
Mehr als überrascht kleidete sich der Kommissar an. Janvier war mit einer Ermittlung beschäftigt, die in die Kategorie »leicht« fiel. Vor ein paar Tagen hatten zwei Männer ein Nachtlokal überfallen und ausgeraubt. Dabei war ihnen anzumerken, dass sie keine Profis waren. Die Toilettenfrau erkannte einen der beiden Täter anhand eines Fadens auf der Hose. So war der Täter sehr schnell identifiziert: ein junger Mann namens Paulus. Auch seinen Wohnort hatten die Polizisten sehr schnell ausfindig gemacht. Eine kleine Pension in der Rue Lhomond.
Nur: Der Vogel war ausgeflogen. Die Routine begann. Man ließ die Pension bewachen. Irgendwann, so die Vermutung, würde der junge Mann schon wieder auftauchen.
Tat er aber nicht. Stattdessen wurde wie aus heiterem Himmel Janvier niedergeschossen. Die Überraschung war groß, denn das Verhalten passte nicht zu dem Typus des vorangegangenen Verbrechens.
Maigret, der diesen Fall nur von den Berichten seines Teams kannte, mochte nicht glauben, dass es der junge Paulus war, der seinen Inspektor, der zu seinen Lieblings-Leuten gehörte, niedergeschossen hatte. Aber er war das einzig Fassbare (wenn auch nicht der einzig Fassbare).
Da er sowieso allein war, konnte er sich auch in der Pension von Mademoiselle Clément und damit im Zimmer von Paulus einquartieren. Die Pension wurde zur Einsatzzentrale Maigrets und die Wirtin hatte sich damit zu arrangieren. Oder war es eher umgekehrt?
Phase 2
Damit tauchte er in eine Welt ein, die einfach reizend war; er tauchte in die Welt von Mademoiselle Clément ein. Die Welt war für sie einfach nur bunt und fröhlich, und so wirkte sie auch auf andere. Maigret erinnerte die Frau an eine überdimensionale Sprechpuppe. Die Frau war Mitte vierzig, und ziemlich dick. Sie wirkte nicht hässlich und schaffte es, die Menschen für sich zu begeistern. Sie ging mit viel positiver Energie durchs Leben und hatte die Inspektoren aus Maigrets Team sehr schnell eingelullt. Sie war bereit, über jeden, den sie kannte, bereitwillig Auskunft zu geben. Ein schlechtes Wort hörte man dabei allerdings kaum. Damit entfiel das Wesentliche, das, was für den Kommissar interessant gewesen wäre.
Maigret begann damit, jeden Mieter einzeln zu durchleuchten. Aber in der Tat, er traf nur auf reizende oder völlig harmlose Bewohner. Beispielsweise einen Operettensänger, der sich über Wasser hielt, in dem er talentfreie Mädchen im Gesang ausbildete; einen Krankenpfleger, der in einer psychiatrischen Klinik arbeitete, bei eigentlich ein aus Rumänien stammender Rechtsanwalt war; ein Mädchen, dass Schauspielerin werden wollte, auf die große Rolle aber im Bett wartete, wo sie hin und wieder ein »Onkel«, wie Mademoiselle Clément meinte, besuchte. Schwierig für Maigret, denn unter den Bewohnern ließ sich niemand finden, dem man den Mordversuch an Janvier zutrauen würde.
In einer schlaflosen Nacht machte sich der Kommissar auf den Weg in die Küche. Nach einem Abend mit Mademoiselle Clément war sein Mund total verklebt (sie mochte leidenschaftlich gern Chartreuse und hatte ihn damit derart abgefüllt, dass er sich nicht mehr wohl fühlte – obwohl er behauptete, es sei nicht so viel gewesen), und er sehnte sich nach einem Bier. In der Küche entdeckte er die Pensionswirtin, die sich ein riesiges Sandwich machte. Sie reagierte überrascht, als sie Maigret entdeckte, und erklärte, sie hätte nachts immer großen Hunger. Sie lud Maigret ein, ebenfalls einen Bissen zu nehmen. Der lehnte dankend ab und beobachte Mademoiselle Clément dabei, wie sie das Sandwich erst lustvoll, später immer mühsamer in sich hineinquälte.
Die Frau wusste viel zu erzählen. Sie wusste zum Beispiel genau, dass sein Inspektor Janvier wieder Vater wurde (nun, das hatte Maigret auch schon mitbekommen). Aber er hatte der Pensions-Vorsteherin auch anvertraut, dass sie ein Mädchen erwarten würden. Ein Wunsch, den er hegt.
Maigret lässt sich genau über den Gesundheitszustand seines Inspektors berichten. Von Tag zu Tag ging es ihm besser. Janvier machte sich immer noch Vorwürfe, dass es ihn erwischt hat. Denn er konnte nicht sagen, wer auf ihn geschossen hatte, noch nicht mal, ob es jemand auf der Straße gewesen war oder ob der Schuss aus einem Fenster kam. Er war beim Anzünden einer Zigarette überrascht worden. (Den Scherz, das Rauchen nicht gesund ist, hatte ich schon bei der Gelbe-Hund-Geschichte gemacht.)
Am nächsten Tag machte sich Maigret auf den Weg über den Markt und durch die Geschäfte, die Mademoiselle Clément normalerweise frequentierte, und fand heraus, dass seine Wirtin in letzter Zeit einen größeren Bedarf an Lebensmitteln hatte. Erst wird er – als stattlicher Mann – für die Ursache gehalten, kann aber im Geiste verneinen, da er seine Mahlzeiten in einem Restaurant in der Nähe einnahm, welches von einem Mann aus der Auvergne geführt wurde (und das schmackhaften Weißwein bereithielt, der grünlich schimmerte), und außerdem ging es schon länger so.
Zurück gekehrt sorgt er dafür, dass sich Mademoiselle Clément ordentlich ärgert: Er führt erneut eine Hausdurchsuchung durch und findet dabei Paulus unter dem Bett der Wirtin.
Phase 3
Paulus beteuert, dass die Wirtin nichts von seinem Unterschlupf gewusst hätte. Maigret weiß es besser. Er kennt das Herz der Pensionswirtin, und ist vielleicht ein klein wenig beeindruckt, wie der Junge versucht seine Beschützerin zu beschützen. Es wäre auch das erste Mal gewesen, dass Mademoiselle Clément nicht gewusst hätte, was in ihrem Hause vor sich ging. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der junge Mann einen Mord begangen hat. Den Überfall auf das Lokal, gut, das konnte sie nicht ins Positive drehen. Das musste vielleicht sein, denn seine Lexikonverkäufe waren nicht sehr erfolgreich und er war mit der Miete schon einige Wochen im Rückstand (was Mademoiselle Clément mit den Worten quittiert hätte: Wer in einer Pension wohnt, der hat immer Mietrückstände.).
Für Maigret sieht es so aus, dass er einen Raubüberfall geklärt hat, aber die Lösung zu dem Mordversuch an seinem Inspektor noch immer in einem undurchsichtigen Nebel wabberte.
In der Folge war Maigret ein wenig sauer auf Mademoiselle Clément und sie auf ihn. Der Kommissar versuchte eine neue Spur zu finden und die Pensionswirtin begegnete dem Mörder. Mehr wird an der Stelle nicht verraten.
Ein kleines Fazit
Wie steht es so schön, auf dem Buchrücken einer Diogenes-Ausgabe: es ist einer der amüsantesten Maigrets (ja, Dank an Mademoiselle Clément) und eine tragikkomische Liebesgeschichte. Diese klärt sich aber erst buchstäblich auf den letzten Seiten des Buches aus. Jeder, der diesen Maigret in seine Favoriten-Liste aufnimmt, kann ich gut verstehen.