Über die Story
Es begann damit, dass Maigret mit dem Bus zur Arbeit fuhr. Er sinnierte über seine Vorliebe für offene Plattform bei den Bussen nach. Das Gedränge im Inneren der Busse mochte er überhaupt nicht. Nachdem er feststellte, dass ihm die Brieftasche gestohlen wurde, hatte er einen weitere Grund an der Hand, warum er die geschlossenen Busse verabscheute. Wie hätte er ahnen können, dass ihn dieses eher geringfügige Delikt zu einem Mordfall führen würde. Ursprünglich plante Simenon einen Titel wie »Maigret und der ungeschickte Taschendieb«, aber das wäre nicht treffend gewesen. Schließlich bekam der Kommissar nicht unmittelbar mit, dass er bestohlen worden war.
»Schon gut…« Seit er an der Ecke Boulevard Richard-Lenoir und Boulevard Voltaire zugestiegen war, hatte sie bestimmt schon dreimal den Halt verloren, ihn jedes Mal mit ihrer spitzigen Schulter gerammt, wobei ihr Einkaufsnetz gegen seinen Schenkel schlug.
Sie entschuldigte sich nur pro forma, offenbar war ihr die Sache nicht sonderlich peinlich, berührte sie kaum, denn gleich darauf blickte sie wieder ruhig und entschlossen geradeaus.
Maigret nimmt es der Frau aber nicht übel, dafür ist es viel zu schön. Schon an die permanenten Zusammenstöße gewöhnt, entgeht ihm dabei allerdings, die »anschmiegsame« Bewegung eines anderen Mitfahrers. Gelegenheit macht Diebe, heißt es. Dem Kommissar wird das aber erst bewusst, als er einen jungen Mann eilig von der Plattform des Busses springen sieht. Er fühlt nach seiner Brieftasche und siehe da: sie ist verschwunden.
Die Brieftasche enthielt 50 Francs und seine Polizeimarke. Letzteres schmerzte am meisten, da beim Verlust der Marke ein Monatsgehalt einbehalten wird. Früher kannte Maigret jeden Taschendieb, da er sich am mit der Zeit einem anderen Genre verschrieben hatte, hatte er den Kontakt zur Szene verloren. Den jungen Mann, der mit seiner Brieftasche davonlief, kannte er nicht. Jede Chance nutzend, nicht ein Monatsgehalt zu verlieren, machte sich der Kommissar auf den Weg zur Kartei, um die Verbrecherkartei durchzuschauen. Es half aber nicht, der Mann war nicht dabei.
Beim Mittagessen zu Hause musste er seiner Frau gestehen, dass seine Brieftasche gestohlen wurde. Darauf folgten die – für Madame Maigret typisch – leisen Vorhaltungen, dass dies nicht passiert wäre, wenn er die Brieftasche nicht in der Gesäßtasche getragen hätte. (Ich persönlich habe meine Zweifel, ob eine Frau das mit der Gesäßtasche verstehen wird, wo es Männer ja nur mit »Es ist bequem.« erklären können. Dieser Tradition können eigentlich nur die Unmassen von Magnetkarten Einhalt gebieten, die nicht gesäßtaschenkompatibel sind.) Zurück bei der Kriminalpolizei erwartete eine Überraschung auf ihn:
Die Post stapelte sich auf seinem Schreibtisch. Zuoberst lag ein dicker brauner Umschlag. Sein Name, sein Rang und die Adresse am Quai des Orfèvres waren in Blockschrift gemalt.
Noch bevor er den Umschlag aufriss, wusste er, was er enthielt. Jemand sandte ihm seine Brieftasche zurück. Gleich darauf sah er, dass nichts fehlte, weder die Marke noch die Papiere und die fünfzig Francs.
Weiter nichts. Kein Wort der Erklärung.
Er fühlte sich gekränkt.
Kurz darauf die Erklärung am Telefon:
»Ich bin’s ...«
Eine recht tiefe Männerstimme, die aber doch so klang, als druckste ein Kind herum, das etwas auf dem Kerbholz hatte.
»Meine Brieftasche?«
»Ja.«
»Sie wusste nicht, wer ich bin?«
»Natürlich nicht, sonst…«
»Warum rufen Sie mich an?«
»Weil ich Sie unbedingt sprechen muss…«
»Dann kommen Sie doch in mein Büro.«
»Nein! Zum Quai des Orfèvres, das geht nicht.«
»Kennt man Sie hier?«
»Nein, ich habe das Polizeipräsidium nie betreten«
»Wovor fürchten Sie sich denn?«
Das war eine berechtige Frage, mit Menschen die aus Angst anriefen, hatte Maigret schon häufiger zu tun (zum Beispiel »Maigret und sein Toter«). Das Gegenüber will nicht verraten, was er für Probleme hat, wie er heißt. Er hat nur einen einzigen Wunsch: sich mit Maigret irgendwo zu treffen, wo Maigret ohne Begleitung hinkommt. Nach langen Verhandlungen ging der Kommissar darauf ein…
Nach einem kurzen Treffen in einer Bar, begleitet Maigret den jungen Mann zu seiner Wohnung. Dort muss Maigret den Anblick einer toten Frau ertragen, um die schon die Fliegen schwirren. Der junge Mann gibt an, zwei Tage zuvor nach einer Odyssee durch verschiedene Kneipen und Restaurants, in denen er nach Freunden suchte, die er um Geld anbetteln konnte, nach Hause gekommen sei, und seine Frau tot vorfand (»Mensch, das Luder stinkt aber« – Wortlaut eines städtischen Angestellten). Sein erster Gedanke sei gewesen, dass er der Hauptverdächtige sei, deshalb sei er geflohen und die beiden folgenden Tage durch Paris geirrt, bis er »unglücklicherweise« die Brieftasche des Leiters der Kriminalbrigade gestohlen hätte.
Der junge Mann – François Ricain – hat keine feste Anstellung, arbeitet als freischaffender Journalist. Ein paar Mal soll ihm jemand seine Storys abgekauft haben, keine großen Zeitung, sondern kleine Literaturblätter und Stadtteiljournale. Er und seine Frau verkehrten in Künstlerkreisen.
Da die Tür von Madame Ricain persönlich aufgemacht worden sein muss, geht Maigret von einem Bekannten als Täter aus und taucht in die Künstlerkreise ab…