Das Organisationstalent

Ein (Alb)traum von Ehemann

Unwillkürlich neigen wir dazu, Floskeln zu verwenden. Als Beispiele könnte ich »geliebter Ehemann« oder »treue Ehefrau« anführen. Es war sehr wahrscheinlich, dass auch Émilie Thouret für ihren Ehemann eine Reihe von Adjektiven verwendete, wenn sie über ihn sprach. In das Repertoire gehörten wahrscheinlich die Begriffe »langweilig«, »behäbig« und »genügsam«. Es war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass sie über ihren Mann herzog – in erster Linie gegenüber ihren Schwestern. Ihre Schwager waren bei der Bahn und hatten dort verantwortungsvolle, naja, sagen wir mal sichere Jobs und im Alter eine Pension. Das dürfte dem Ehemann sehr oft unter diese Nase gerieben worden sein.

Monsieur Thouret indes zeigte keinen Ehrgeiz und fand Erfüllung in seinem Leben als Lagerverwalter. Eine gewisse Genugtuung war es für seine Frau, dass er einen kleinen Aufstieg zum stellvertretenden Chef hinlegte. Selbst dieser Karrieresprung erweckte jedoch kein neues Feuer in dem Mann, er schien zufrieden zu sein. Er war nicht einmal gewillt, sich den neuen Titel in den Ausweis eintragen zu lassen. Wenn der Mann wüsste, wie verzweifelt seine Frau ob dieser Lethargie war!

So hatte Madame Thouret sicher gesprochen, als ihr Mann noch am Leben war. Dann jedoch ließ sich dieser bescheidene, wenig ehrgeizige Mann in einer Sackgasse am Boulevard Saint-Martin ermorden und sie blieb allein mit der Tochter zurück! Natürlich ohne eine Altersabsicherung. Die Trauer, das spürte Maigret, hielt sich in der Familie in Grenzen. Da war mehr Empörung als Schmerz über den Verlust des – da haben wir es – geliebten Ehemannes. 

Nehmen wir kurz an, dass der Mann von oben runterschaute und beobachtete, wie sich der Grund für die Empörung seiner Frau bei der Identifizierung im Leichenschauhaus schlagartig wandelte: Er dürfte sehr glücklich gewesen sein.

Der Mann, Louis Thouret, trug gelbe Schuhe! 

Dinge der Unmöglichkeit

Der Inspektor des zuständigen Reviers fand die Umstände des Todes merkwürdig. Deshalb hatte er Maigret hinzugezogen. Wie richtig der Polizist mit seiner Einschätzung lag, sollte sich schnell erweisen. Die Schuhe waren nur das erste Indiz gewesen und sie stellten das Sahnehäubchen einer Rebellion gegen die, die ihn zu Hause mit ihrem Geschwätz über die Bahn und die Vorteile des Beamtentums langweilten, dar.

Es war nicht so, dass sie unrecht hatte. Unbestreitbar waren die Bahner unkündbar und ins passende Alter gekommen, stand ihnen eine Pension zu. Das Angestellten-Dasein war nicht ganz so goldig und der Besitzer von Thourets Firma sorgte für den Beweis, in dem er eines Tages auf die Idee kam, seinen Laden zu schließen. Da stand Thouret auf der Straße. Eine Situation zum Verzweifeln, denn der Lagerverwalter hatte nicht nur seinen Halt im Berufsleben verloren. Er konnte sich lebhaft ausmalen, was er sich zu Hause anzuhören hatte. Konflikten dieser Art kann man auf schlichte Art aus dem Weg gehen: Die Entlassung wurde verschiegen.

All das war zu Anfang auch Maigret nicht bekannt. Er glaubte den Angaben der Frau und wollte die Firma aufsuchen. Da war eine Concierge, die den vergangenen Zeiten nachtrauerte, und ihm offenbarte, dass es die Firma nicht mehr gab. Mit der Frau traf Maigret den ersten Menschen, der sich betroffen vom Tod des Louis Thouret zeigte. Wirklich merkwürdig, dass der Mann in der Familie genauso wertgeschätzt wurde wie von Kollegen, Freunden und Bekannten.

Lebenskünstler

Maigret spürte dem Tun des Mannes nach seiner Entlassung nach. Geld hatte sich Thouret geliehen. Dazu hatte er bei Schicksalsgenossen, die genauso wenig hatten wie er, an die Tür geklopft. Da war eine ehemalige Sekretärin, die ein Geschäft mit Baby-Kleidung betrieb, und der steinalte und arme Buchhalter, von dem Maigret nicht wusste, ob er genug zu Essen hatte. 

Thouret war ein guter Schuldner gewesen und zahlte das geliehene Geld pünktlich zurück. Er zeigte sich gegenüber seinen Kollegen:innen dankbar. Hin und wieder schaute Thouret auch später bei seinen ehemaligen Kollegen herein oder plauschte mit ihnen auf seiner Bank. Sie hatten jedoch keinen Schimmer, womit ihr ehemaliger Kollege sein Geld verdiente.

Thourets Frau ahnte von dem Drama nichts. Seine Tochter arbeitete, wie er, in Paris und durch einen blöden Zufall bekam sie mit, dass die Firma des Vaters zugemacht hatte. Wie er sein Geld verdiente, bekam sie nicht heraus. Viele, die Maigret befragte, hatten den Eindruck, dass Thouret den Tag damit zu verbrachte, auf den Bänken von Boulevards zu sitzen. Hin und wieder unterhielt er sich mit Menschen – dabei war er stets nett und freundlich. Er machte einen heiteren, glücklichen Eindruck.

Aber irgendeiner Tätigkeit musste Thouret angegangen sein oder irgendetwas muss er gemacht haben. Schließlich war er erdolcht worden! Schleierhaft war den Ermittlern auch, wie der Mann es organisierte, mit gewöhnlichen Schuhen in die Stadt zu fahren, dort in gelben Schuhen herumzuspazieren (und sich in selbigen ermorden zu lassen) und abends in Juvisy wieder die Schuhe zu tragen, mit denen er das Haus morgens verlassen hatte.

Nicht ohne Grund

Mit der Beschreibung dieser Story ging maigret.de damals online – ein paar Jahre ist das schon her. Die Geschichte ist damals, als noch nicht abzusehen war, was das hier einmal wird, gewesen, dass sie zu den hervorragenden Maigret-Geschichten zählt. Man spürt die Sympathie Maigrets für das Opfer und seinen Ehrgeiz, den Fall aufzuklären. 

Wer das Buch ausgelesen beiseite legt, wird hochzufrieden sein – Simenon hat mit diesem Roman einen typischen Maigret geliefert. Ungewöhnlich war es sicher, aber die Geschichte ist plausibel.

In vielen anderen Krimis spielen die Opfer kaum eine Rolle und die Täter:innen (und allzuoft seine Abartigkeiten) werden in den Mittelpunkt gestellt. In diesem Roman spielt es kaum eine Rolle, wer den Mann umgebracht hatte, und wenn das Motiv zum Ende aufgedeckt ist, zuckt man mit den Schultern und denkt sich: »Das ist so profan!« Simenon bietet in seinen Maigrets keine Spurensicherungsschlachten auf, das interessante und irgendwie aufregende Leben des Opfers ist die Story. Das genügt am Ende.