Die Klette

Maigret zog durch, was heute wenig statthaft wäre: Dreißig Stunden am Stück hatte er eine Bande von Verbrechern »interviewt«, um den Kerlen ein Geständnis zu entlocken. Die Widerstandskraft, die die »Mauerbrecher« in diesem Verhör an den Tag legten, zeugte nicht von Cleverness. Es machte den Polizisten nur den Tag lang.

Maigret war im Gehen begriffen, da klingelte ein Telefon im Büro der Inspektoren. Der Anruf konnte nicht für ihn sein, abnehmen tat er trotz allem. Der Anrufer berichtete ihm von der Leiche einer Frau, die auf einem Platz im 9. Arrondissement abgelegt wurde. Das hörte sich interessant an und der Tatort zog den Kommissar an. Einen Blick konnte er riskieren und er nahm Janvier ins Schlepptau, um den Ablageort zu inspizieren. Die Müdigkeit war verflogen.

Der Maigresseur von Welt – manche schreiben es mit »t«, was unüblich ist. In dem Fall wird das »t« nicht mitgesprochen – zuckt zusammen und denkt sich: »8., 9. Arrondissement? Das ist das Revier von Lognon!« und der Kenner hat recht.

Lognon, schon vor Ort, fragte sich, was das hohe Tier vom Quai an seinem Tatort machte. Was hatte den Chef dazu gebracht, ihm seinen Fall wegzuschnappen?

Den »Eindringling« störte die »Inszenierung«, die sich ihm am Tatort bot: Die junge Frau trug ein Abendkleid, keine Spur nuttig – was in dem Viertel kein Wunder wäre. Ein Schuh fehlte, Blut war ebenfalls keines zu sehen. Eine Prostituierte war es nicht. Seine Erwartungen waren konterkariert worden und das machte dieses Tötungsdelikt für ihn übernahmewürdig. Der Chef vom Quai konnte nicht anders, als die Zügel in seine Hand zu nehmen. Pech für Lognon, der ins zweite Glied zurückzutreten hatte.

Die Namenlose

Die Polizisten fanden bei ihr weder Pass noch Führerschein. Es gab keine Anhaltspunkte, wer die Frau gewesen war.

Helfen konnte die Gerichtsmedizin: Maigrets Lieblings-Leichenbeschauer Dr. Paul hatte Dienst. Die Leiche war in den besten Händen. Die beiden Polizisten hatten Glück und bekamen in der Nacht die ersten Informationen. Der Kommissar konnte besser einschätzen, wer die Tote war und was am Abend ihres Todes vorgefallen war. Eines stand fest: Sie war nicht anschaffen gegangen. Der Mörder griff die Unbekannte frontal an. Es handelte sich nicht um den Angriff eines hinterlistigen Räubern. Sie starb an drei oder vier Schlägen auf den Kopf. Von Nachteil war gewesen, dass sie betrunken war. Die Attacke des Angreifers hatte das vielleicht vereinfacht.

Heute haben es die Ermittler einfacher: Forensiker nehmen das Smartphone und untersuchen, was sich darauf so findet. Sie checken die sozialen Netzwerke, um schnell herausfinden, mit welchen Menschen die Person Kontakt hatte. Ihnen helfen Methoden wie DNA-Abgleich und Zahnabdrücke – Optionen, von denen Maigret nur träumen konnte. Simenon hielt seinen Kommissar an der kurzen Leine und war unwillens, diesem nennenswerte technische Hilfsmittel an die Hand zu geben. 

Aber er hatte etwas anderes, was seine Inspektoren schlank hielt: Zu Maigrets Zeiten kleideten sich die Menschen nicht mit Shirts und Hosen aus Bangladesch und Vietnam. Ein gefundener Schuh oder ein Kleid konnten so aussagekräftig genug sein. Die Inspektoren gingen in Kaufhäuser oder Boutiquen. Sie fragten nach, wann die Kleidungsstücke – wie die gefundenen –, verkauft wurden und an wen. Das war Laufarbeit, mühsam und zeitaufwändig. Das Kleid der Unbekannten besaß ein solches Etikett. Auf dem stand, dass es aus der Boutique »Madame Irène« stammte und zur großen Freude von Maigret & Co. war die Adresse ebenfalls notiert. 

Den Kommissar plagte ein schlechtes Gewissen und er nahm zu seinem Ausflug in das Geschäft Lognon mit. Elisabeth Coumar, Madame Irène war eine Art Künstlername, betrieb eine Boutique. Sie beschränkte sich nicht auf den Verkauf von Kleidungsstücken, sondern ihre Kundinnen konnten Sachen (Kleider, Schuhe, Handtaschen) von ihr leihen. Am Abend vor dem Mord huschte sie kurz vor Schluss in den Laden. Einen Monat zuvor war die Ermordete ebenfalls spät und spontan gekommen. Die Unbekannte war insgesamt zweimal bei ihr gewesen und wählte beide Male das selbe Kleid.

Madame Coumar meinte, dass die Not am Vorabend größer gewesen war. Die Unbekannte hatte kein Geld für die Kaution und ließ ihre Alltagssachen als Pfand zurück. Ein Glückfall für den Kommissar! Die Boutique-Besitzerin kannte den Namen ihrer Kundin nicht. Mit Hilfe der Kleidungsstücke hatten er und seine Kollegen die Chance, weiterzukommen. Die Polizisten hofften auf die Etiketten in den Kleidungsstücken.

Den Namen des Mordopfers bekamen sie auf anderem Wege heraus: Im ersten Versuch fotografierte ein Erkennungsdienstler die Tote direkt. Der Kommissar kümmerte sich darum, dass die Blätter sie veröffentlichten. Nicht so üblich war die andere Idee Maigrets: Er schickte Lapointe in eine Agentur für Mannequins. Der Inspektor suchte ein Model, dass der Verstorbenen ähnlich war. Leicht vorstellbar, was für ein Spaß das für Lapointe gewesen war, schüchtern wie er war. Ein Profi fotografierte das Model in den Klamotten der Verstorbenen. Anschließend gingen die Fotos an die Presse.

Daraufhin sollte es eine Rückmeldung geben. Am Quai konnte man durchatmen, den der Name war am Quai bis zu dem Zeitpunkt nicht bekannt.

Ein Dienstmädchen namens Rose war es, das sich bei der Polizei meldete. Sie verriet den Ermittlern den letzten Wohnort. Rose war gerade vom Land in die Hauptstadt gekommen. Konnte sie sich am ehesten in das Leben und Schicksal der Toten hineinfinden? Hatte sie deshalb die Hinweise gegeben, die es Maigret ermöglichten, den Namen herauszufinden?

Louise Laboine hieß die Tote vom Platz.

Ein trauriges Bild

Was waren das für glorreiche Zeiten, als Zahnärzte die Zähne ohne Narkose zogen. Als die Wecker keine Schlummertaste hatten und das Telefon eine Strippe hatte. Früher war alles besser, heißt es und wenn auf Beispiele wie oben verwiesen wird, wird gesagt: »Das ist nicht vergleichbar! Es geht um die Umgangsformen und darum, dass Kinder sich selbst überlassen bleiben.«

Es war in der Vergangenheit nicht anders als heute, dies wird gern ausgeblendet. Wenn ein Roman ein Beweis sein kann – diese Maigret-Geschichte hat das Zeug zum Beweisstück. Die Menschen in ihrer Umgebung kümmerten sich um die »graue Maus« nicht.

Langsam und gemächlich forscht Maigret das Leben der jungen Frau aus. Den Leuten, die sie kannten, waren war das Schicksal ihrer Freundin, Bekannten und Kollegin offenbar egal. Da hatten sie die Zeitung mit Fotos der Verstorbenen herumliegen, das konnten die Polizisten bei allen Zeugen sehen. Jedoch hielt es keiner für nötig, sich bei der Polizei zu melden. Die Menschen ändern sich nicht, die Werkzeuge vielleicht.

Was für Eltern Louise hatte! Der Vater war früh aus dem Leben des Kindes verschwunden und seinen Unterhaltsverpflichtungen nur sporadisch gefolgt. Die Mutter suchte sich einen Beruf, der selbst mit bestem Willen nicht als kindgerecht bezeichnet werden konnte. Sich als Einkommensquelle Glücksspiel zu suchen, lässt zudem Verantwortungsgefühl missen. Mit sechszehn Jahren verschwand Louise aus dem Mutterhaus und machte sich auf den Weg nach Paris.

Ein paar Schritte vorneweg

Die Polizisten hatten einen Namen und sie wussten ein wenig über die Verstorbene. Die Inspektoren schwärmten aus, Kollegen aus anderen Dezernaten kamen auf Maigret zu und hatten Interessantes zu berichten. Die Suche in den Archiven förderte Erkenntnisse zu Tage, die die Ermittler überraschten.

Das sah gut aus für die Ermittlungen, aber die Quai-Leute hatte ein Handicap: Lognon.

Der Mann rannte und rannte und rannte. Er war ein Informationsstaubsauger erster Güte. Wo Maigret mit einen seinen Inspektoren während der Untersuchung auftauchte: Lognon war entweder kurz vor ihm eingetroffen. Oder es hieß, ein Polizist wäre zuvor dagewesen und sie hätten mit dem Mann ausführlich gesprochen. Ja, er hatte einen griesgrämigen Eindruck gemacht und gesund war er auf keinen Fall.

Und Maigret? Der hatte ein schlechtes Gewissen. War es nicht Lognons Fall und dessen Möglichkeit, Ruhm zu erlangen? Der Kommissar drohte ihm diese Chance einmal mehr zu nehmen. Während er, Lognon, bei Wind und Wetter, Tag und Nacht, durch die Stadt trottete, saß Maigret in seinem gemütlichen Büro. Er konnte mit dem Schürhaken im Ofen herumstochern. Alle tanzten um ihn herum und brachten die gewünschten Informationen.

Lognon sprach es nicht aus und ob er es dachte, wer weiß das. Er hatte diesen leidenden Gesichtsausdruck und Maigret interpretierte vielleicht zu viel hinein. Als Leser:in folgen wir den Aktivitäten des Griesgrams am Rande und sehen, wie er anfängt, sich zu verlaufen.

Fazit

Es würde mehr über die Täter berichtet als über die Opfer, ist hin und wieder zu hören. Stimmt auch oft, weil die Täter interessanter sind. Zumindest in diesem Roman ist das nicht so. Das Opfer steht im Mittelpunkt. Wer es Louise Laboine umgebracht hatte und warum, spielte für Maigret eine Rolle – aber nicht die wichtigste. Sie wurde zu einem Zeitpunkt ihres Lebens umgebracht, zu dem sie völlig perspektivlos war. Die Worte »Ehrgeiz« und »Wille« fallen nicht, wenn Zeugen Maigret über die Frau erzählten. Warum nur hatte sie zu ihren Lebzeiten niemand gefunden, der sie an die Hand genommen und ihr einen Schubs in die richtige Richtung gegeben hat? Schauen wir nach, wie es in unserem Leben aussieht und ob da jemand ist, wie Louise.

Als Krimileser stellt sich die die Frage, warum sollte man einen solchen Menschen umbringen? Wer das Buch zur Hand nimmt, dem kann versprochen werden, dass er sich nicht verlaufen hat. Es handelt sich um eine gute Wahl, dieser Roman gehört zu den absoluten Maigret-Empfehlungen.