Geiz verdirbt den Charakter
Schön ist Cécile nicht, was sie aber durch ihre Geduldigkeit wieder wett macht. Nein, es wäre ungerecht zu behaupten, dass eine schöne Frau, die Maigret im Verdacht gehabt hätte, verrückt zu sein, mehr beachtet worden wäre, aber ausschließen kann man es nicht. Cécile spricht häufiger bei Maigret vor, denn sie hat bemerkt, dass bestimmte Gegenstände in der Wohnung nicht an ihrem gewohnten Platz stehen. Und obwohl in dem Zweipersonen-Haushalt niemand raucht, liegt an manchem Morgen Tabakgeruch in der Luft. Die Inspektoren, die über mehrere Nächte die Wohnung beobachteten, haben aber nichts feststellen können.
Maigret mag an den oder die geheimnisvollen Besucher nicht glauben. Da er ohnehin schon von seinen Kollegen aufgezogen wird (»Cécile!... Also, wenn ich Madame Maigret wäre…«), lässt er sie, als er sie morgens im Aquarium entdeckt, links liegen. Er geht zum Rapport zum Chef, muss sich um einen verschwundenen Großindustriellen-Sohn kümmern und eine Bande von Polen macht ihm auch sorgen. Gegen Mittag fand er dann Zeit…
»Bringen Sie das Mädchen herein…«
Augenblicke später kam der Bürodiener allein zurück.
»Sie ist weggegangen, Herr Kommissar…«
»Ach!«
Einen Augenblick leichter Ärger, dann warf Maigret noch einmal einen Blick auf die Anmeldung – Sie müssen mich unbedingt empfangen. Heute nacht ist etwas Schreckliches passiert. Cécile Pardon. Eine leichte Unruhe kommt auf, Maigret lässt sich noch einmal die Gespräche mit ihr durch den Kopf gehen. Cécile hätte sich um nichts in der Welt davon abbringen lassen können, an diesem Tag mit ihm zu sprechen. Er macht sich auf den Weg, um das Schreckliche zu begutachten. Eine Überraschung ist ihm gewiss.
Cécile wohnt mit ihrer Tante zusammen, der sie als Haushälterin dient. Die Tante ist mehr oder weniger bettlägerig, ein Gang am Stock von einem Zimmer zum anderen ist das Höchste. Das Haus, indem sie wohnen, gehört der Tante, die im Viertel für ihren Geiz bekannt (Sie ist nicht sehr umgänglich. – Cécile). Wie hässlich sie ist, weiß kaum einer, da sie das Haus nicht mehr verlässt.
Als Maigret eintrifft, macht ihm weder Cécile noch die alte Frau auf. Auf seinen Klingeln kann er keine Reaktion feststellen, und so macht sich Maigret in dem Viertel auf die Suche nach einem Schlosser, der ihm die Wohnungstür öffnet. Die alte Frau findet er ihn ihrer Wohnung, in ihrem Bett – erwürgt, sie konnte die Tür wirklich nicht mehr aufmachen. An der Tür waren keine Spuren gewaltsamen Eindringens zu finden, und auch die Wohnung machte nicht den Eindruck, als ob der Mörder sie umgekrempelt hätte. Das war also das Schreckliche, was Cécile ihm hat mitteilen wollen. Oft genug hatte sie Maigret mitgeteilt, dass jemand in der Wohnung war.
»Der Chef will Sie sprechen«, meldete sich der Bürodiener, der gerade Briefe frankierte.
Ohne vorher in sein Zimmer zu gehen, klopfte Maigret an die Tür des Direktors. Die Lampe auf dem Schreibtisch war die einzige, die brannte.
»Nun, Maigret?«Schweigen.
»Eine unerfreuliche Geschichte, nicht wahr? Tut mir leid, mein Lieber… Nichts neues da draußen?«
Maigret spürte, dass der Chef ihm etwas Unangenehmes mitzuteilen hatte. Er zog die buschigen Augenbrauen hoch und wartete ab.
»Ich wollte Sie benachrichtigen, aber Sie waren in Bourg-la-Reine schon weg… Es geht um die junge Frau… Victor hat vorhin…«
Maigret hatte damit schon gerechnet. Cécile hätte sich nie aus dem Aquarium fortgestohlen. Sie hatte am Morgen ihre Tante entdeckt, ist zu Maigret geeilt, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen und nicht empfangen worden.
Maigret versuchte, in Gedanken die Worte des Direktor der Kriminalpolizei vorherzusagen.
»Kurz, Victor rannte in seinem Schrecken (er hatte gerade einen Anpfiff von einem Staatsanwalt bekommen) zur Besenkammer. Raten Sie mal, wen er dort fand…«
»Cécile«, antwortete der Kommissar ohne Verwunderung und senkte den Kopf.
Maigret kehrt zum Haus zurück. Er schließt Bekanntschaft mit den Hausbewohnern – der Concierge (Übrigens: So eine Concierge ist doch etwa äußerst praktisches für den französischen Kriminalroman. Eine Person, die rund um die Uhr das Haus bewacht, die volle Kontrolle darüber besitzt, wer ein- und wer austritt, und die von Natur aus schwatzhaft ist. Polizisten in anderen Ländern müssen sich auf das Äußerste abmühen.), der ungarischen Familie bzw. mehr deren jüngster Tochter, die sich voller Erwartung an Maigret heran wirft und einem ehemaligen Rechtsanwalt, der guter Freund der verwitweten Madame Pardon. Letzterer hatte auch gute Beziehungen zur französischen Justiz, was allerdings eine etwas andere Bedeutung bekommt, wenn man weiß, dass Dandurand auch Monsieur Charles genannt wird und nicht so integer ist, wie der in »Maigret und Monsieur Charles«. Vielmehr hatte er wegen eines Lasters, welches von Simenon nicht näher spezifiziert wird, aber mit einer Vorliebe für junge Mädchen zu tun hat, von der guten alten französischen Justiz zwei Jahre aufgebrummt bekommen und konnte seinen Beruf als Rechtsanwalt an den Nagel hängen.
Cécile wusste nicht, wie reich ihre Tante war, und sie wusste auch nicht, dass Dandurand für die Witwe Pardon eine lukrative Geldanlage entdeckt hatte: Freudenhäuser. So gern Maigret Dandurand für den Mord an der Witwe festgenommen hätte, so sehr ist ihm klar, dass Dandurand das größte Interesse daran hatte, diese am Leben zu erhalten. (Es gibt durchaus Parallelen zu der Erzählung »Hier irrt Maigret« (Une erreur de Maigret ), in der Maigret auch ein unsympathischer oder besser gesagt »schmutziger« Verdächtiger unterkommt, den er gerne verhaften möchte – aber da ist ja immer diese Geschichte mit den Beweisen…) Gérard – der Bruder Céciles – hatte da schon eher ein Motiv. Seine Frau war hochschwanger, er hatte keinen Job und von Geld ganz zu schweigen. Gerade wenige Tage vorher, verlief ein Gespräch mit seiner Tante höchst unbefriedigend. Aber Maigret mag nicht glauben, dass ein Mensch wie Gérard mordet…
Der Fall lässt Maigret nicht mehr los – es mag auch an Schuldgefühlen liegen, die er gegenüber der toten Cécile hat. Maigret bekommt einen stillen Beobachter zugewiesen – Spencer Oats aus den Vereinigten Staaten – und während er sich an den Mörder heranarbeitet, erklärt er diesem die Mentalität von Kriminellen und findet Zeit, dem Gast einem hervorragenden Essen einzuladen. (Simenons Schilderungen von diesem Mahl erzeugen übrigens richtigen Appetit.)