Die ganze Wahrheit

Viele glauben die Wahrheit über Maigret zu wissen, allen voran die Journalisten, die die Fälle von Maigret auf Schritt und Tritt begleitet haben, das Vorgehen des Kommissar jeder Zeit kritisch kommentiert haben. Die ganze Wahrheit kann aber nur einer erzählen: der Kommissar. Was sind die ganzen Romane und Erzählungen wert, wenn Simenon ungenau und schluderig gearbeitet hat und wichtige Einzelheiten aus dem Leben des Kommissars immer wieder verwechselt hat. Kommissar Maigret schafft endlich Klarheit.

​Vielleicht kommt der eine oder andere Maigret-Neuling auf den verwegenen Gedanken, sich zuerst mit den Memoiren des Kommissars zu befassen. Das ist aber keine besonders gute Idee, denn man verwehrt sich dadurch eines besonderes Vergnügens: Beim Lesen der Romane dem Schriftsteller auf die Schliche zu kommen, wo er geschludert hat, wo er sich widerspricht und dann hier die Gelegenheit zu bekommen, zur ganzen Wahrheit zu gelangen. Es ist ein viel größeres Vergnügen, in den Erinnerungen des Kommissars zu schwelgen, wenn man schon den einen oder anderen Roman aus der Reihe gelesen hat.

Ein ausgewiesener Krimi-Leser, das ist ziemlich wahrscheinlich, wird mit dem Lesen der Memoiren als Einstieg in die Welt Maigrets, abgeschreckt werden. Denn eines hat dieses Buch nicht: eine durchgehende Handlung.

... und die fortgeschrittenen Anderen?

​Pflichtlektüre.

Das Kennenlernen

Der Kommissar möchte mit dem Buch einiges zurecht rücken, Klarstellungen vornehmen und – wenn man es genau nimmt – den Beruf in Richtung Langeweile drängen. An einer Stelle stellt Maigret klar, dass es nicht um Action und Abenteuer geht. Die Polizisten sind Fachleute und wollen auch als solche angesehen werden. Sie sind darauf spezialisiert, Menschen und ihre Handlungsweisen einschätzen zu können und Spuren zu beurteilen.

Was man nicht erwarten darf, sind sehr konkrete Fakten mit Datum und Uhrzeit. Simenon mag von Maigret hin und wieder korrigiert werden, aber Maigret ist oft auch sehr vage. So wird man eine Passage, wie die Folgende, in den Memoiren nicht finden:

Am Vormittag des 20. Februar 1881 bin ich als Geschöpf einer Mai-Liebe in einem kleinen Weiler in der Nähe von Moulins zur Welt gekommen. Mein Vater hatte gerade noch das zweite Frühstück zu sich genommen, als die ersten Wehen meine Mutter erschütterten und vor dem ersten leichten Rotwein des déjeuner du dimanche war ich schon zur Stelle, zuverlässig wie man es als späterer Beamter von mir erwartete.

Im ersten Kapitel erzählt Maigret wie er Simenon – 1927 oder 1928 – vorgestellt wird und ihn als Hospitant hat. Er ist schon erstaunt, dass der junge Mann nicht nur sehr selbstbewusst ist, sondern wundert sich auch immer wieder über die Fragen, die ihm gestellt werden. Das waren nicht die üblichen Fragen, die er zu hören bekommt, wenn er mit Journalisten und anderen Besuchern zu tun hat. Es drängt sich auch der Gedanke aus, dass der junge Mann sich nicht nur zu den Themen belesen hat, sondern auch eloquent genug ist, sein Wissen vorzutragen ... um nicht zu sagen, damit zu prahlen.

Ein wenig überrascht ist er dann aber schon, als er feststellen muss, dass er nicht nur seine Dienststelle und seine Tätigkeit dem Schriftsteller gezeigt hat und ihm damit ein Geschenk gab, sondern dass Simenon sich gleich seinen Körper in eine Roman-Figur visualisierte.

Dienstliches

Maigret zeigt uns auf, wie er zur Polizei kam und wie er es in der Polizei in das Dezernat geschafft hat, in welchem man sich mit Mordfällen beschäftigt. Der zieht uns den Zahn, dass die Fälle so interessant wären, wie sie der Schriftsteller im Hintergrund immer schildert. Oft handelt es sich um »Berufsunfälle«, bei denen man nur herausfinden muss, welche Bande welcher anderen auf den Schlips getreten ist oder – so ist es halt im Kapitalismus – die Anbieter spezieller Dienstleistungen versucht haben, ihre Marktanteile auszubauen und dabei an die Grenzen der anderen stießen. Die Polizei ist dabei ein Marktbeobachter und weiß oft sehr rasch, wer da mit weg gespielt hat. Die Zeiten waren andere und wenn man geschnappt wurde, war die Wahrscheinlichkeit, dass man seinen Kopf verlor, ziemlich hoch.

Die Delinquenten schienen Maigret nicht übel zu nehmen, dass er sie gefasst hatte. Sie hatten das Spielt halt verloren. Schon in konkreten Fällen in der Vergangenheit wurde geschildert, dass diese ihn in ihren letzten Minuten dabei haben wollten.[MKL] Maigret schildert, dass ihm die Herren vorher angekündigt hatten, sie würden in dem Moment nicht mit der Wimper zucken. Der eine oder andere soll das geschafft haben. Interessant ist an der Stelle, was es nicht gab: Eine klare Positionierung des Kommissars zur Todesstrafe.

Anders sieht es übrigens mit Fällen aus, die aus Leidenschaft geschehen und in bürgerlichen Kreisen spielen. Simenon thematisiert diese Fälle immer wieder, da sie ihm interessanter erschienen – Maigret fand sie eher unerquicklich.

Man kommt als Polizist nicht einfach so in die Mord-Kommission, auch wenn viele dort hin wollen. So bekommt man als Leser in den Memoiren einen Eindruck, durch welche Schule bzw. Dezernate Maigret sich arbeiten musste, bevor er im Mord-Dezernat landete. Wenn man diese auf dem Weg kennengelernt hat, versteht man auch besser, wie Maigret in seinen Fällen tickt.

Für's Herz

Als Herzstück ist die Geschichte um das Kennenlernen von Madame Maigret zu sehen. Dabei lernen wir nicht nur einen guten Freund von Maigret kennen, sondern einen ganzen Clan, der sich einem speziellen Metier – Straßen- und Brückenbau – verschrieben hat. Heutzutage gibt es im Fernsehen die verschiedensten Shows, bei denen sich Bewerber beiderlei Geschlechts um eine Hochzeitsaspirantin bzw. einen Hochzeitsaspiranten bewerben. In der Regel sind letztere recht gute Partien und die Bewerberinnen und Bewerber erhoffen sich einen gewissen Schub bei dem Erreichen ihrer Ambitionen.

Ganz so ähnlich war es damals auch, nur fanden solche Veranstaltungen nicht im Fernsehen statt sondern in Wohnzimmern. Maigret hat sich dem auch zu stellen und Louise ist das Ziel. Recht lustig ist dabei schon, dass es ein wenig so aussieht, als hätte die Auserwählte einfach mal den Spieß umgedreht. Auf jeden Fall offeriert und Maigret hier eine wirklich nette, lustige und herzerwärmende Geschichte. Jenseits von dem Bösen und dem Elend, mit dem er sonst oft zu tun hat.

Madame Maigret ist es dann auch, die dafür sorgte, dass Maigret einige Fragen beantwortete, die den geneigten Leser der Geschichten immer wieder beschäftigt haben – sie hat ihm eine List gegeben, die er abzuarbeiten hatte. Dafür sollten wir dieser netten, fiktiven Figur auf immer dankbar sein!

Eine Fundgrube

​So haben wir es hier mit einer Fundgrube zu tun, die ganze viele Sachen gerade rückt. Es gibt wenige Bücher von Simenon, die mit so viel Augenzwinkern und auch Weisheit geschrieben sind. Einen der schönsten Sätze findet man am Ende des vorletzten Kapitels und Maigret gibt als Quelle seinen Religionslehrer an:

Wenig Wissen entfernt uns vom Menschen, viel Wissen führt uns zu ihm zurück.

Zitierfähiges Fazit

Die Lebenserinnerungen Maigrets gehören zu den besten Büchern, die Simenon uns hinterlassen hat. Der Schriftsteller hat erkannt, das Maigret schon zu dieser Zeit zu einem Mythos wurde und hat eine (Auto)Biographie verfasst, die mit dem Leben und Sein des Kommissars sehr ironisch umgeht.