Über die Story

Was die Bewohner von Lakeville wunderte, wie die »Fremde« ihre Atmosphäre einatmete. Simenon war noch nicht richtig im Land, aber er konnte Amerika beschreiben. Im Gegensatz zu den Librevillern, die mit »Tropenkoller« ordentlich zu kämpfen hatten und das Bild überhaupt nicht mochten, waren die Bewohner von Lakeville angetan und waren begeistert, Beschreibungen der Ihren in dem Buch zu finden. Von einer Klage gegen das Buch ist nichts bekannt, denn nicht jeder der Beschriebenen oder überhaupt das Verhalten der Gruppe ist unbedingt sympathisch zu nennen.

Jetzt kann man natürlich einwenden: »Moment mal, es ist ja gar nicht von Lakeville die Rede.«, ein Argument, was man durchaus gelten lassen kann, aber Simenon bediente sich bei seinen Romanen und Erzählungen immer an real existierenden Personen und ich denke, es genügt, dass sich die Bewohner von Lakeville wiedererkannt haben. Wen Mister XY in dem Buch als unsympathisch und ekelhaft geschildert wird, so kann es dem Leser egal sein, er kennt diesen Mister nur als Figur, der in einer Geschichte agiert. Es sind häufig auch nur einzelne Charakterzüge, die von Simenon herangezogen wurden.

Der Leser wird mit diesem Buch in eine typische amerikanische Kleinstadt katapultiert. Spencer Ashby ist der Held des Romans, Lehrer von Beruf und in die Gemeinschaft der Kleinstadt integriert. Jeder kennt ihn und die meisten werden ihn auch schätzen, immerhin soweit, dass man ihm die Kinder der Stadt anvertraut. Seine Frau war an diesem Abend zu Freunden gegangen, um Bridge zu spielen. Christine hatte ihn gebeten, mitzukommen, aber Spencer hatte keine Lust und wollte sich in seine »Bude«, wie er sie nannte zurückziehen, außerdem hatte er noch Arbeiten zu korrigieren.

Er hatte ein Hobby: seine Frau hatte ihm vor ein paar Jahren eine Werkzeugbank geschenkt und an der drechselte der Lehrer nun gern herum. Wenn er die Maschine im Gang hatte, hörte er nichts. So konnte er auch nur erahnen, dass ihm Bella, die Tochter einer Freundin von Christine, als sie in der Tür stand, eine gute Nacht wünschte. Wahrscheinlich brüllte Spencer zurück und Bella hat genauso getan, als hätte sie etwas gehört, wie es Spencer tat. Dann sah er das Mädchen nicht wieder, bis zum nächsten Tag, als ihn seine Frau zurück nach Hause »zitierte«, da sich ein Unglücksfall ereignet hatte.

Sie hatte Bella in ihrem Zimmer gefunden – ermordet, präziser gesagt: erwürgt. Der Arzt hatte die Todeszeit ziemlich schnell eingrenzen können und nun stand Spencer Ashby vor einem großen Problem: er war im Haus gewesen, als das Mädchen ermordet wurde. So geht die Polizei und der Untersuchungsrichter auch gleich davon aus, dass nur einer der Täter sein konnte: Spencer Ashby.

Wer war Bella? Die fragte stellte sich Spencer nun. Er war eigentlich ein Einzelgänger, der seine Frau liebte, eine leidenschaftslose Liebe, die man besser Freundschaft nennen sollte. Sie waren vertraut, mochten sich. Aber der Mann liebte seine Freiräume, die ihm seine Frau auch gab. Sie hatte einer Freundin angeboten, Bella aufzunehmen, solange sie in Europa ist, denn die Freundin hatte sich gerade von ihrem Mann getrennt und suchte nun neue Perspektiven. Sie hatte Christine nicht gesagt, was Bella für ein Mensch ist, das sollten die Ashbys erst jetzt erfahren. Spencer ist Bella aus dem Weg gegangen und hatte dem Mädchen keinerlei Interesse entgegengebracht. Es gab keine Zwischenfälle, wie er gegenüber der Polizei immer wieder beteuerte.

Eine Kleinstadt, ja – da hat man ziemlich bald ein Problem. Wie drückte es ein Kleingeist gegenüber Spencer aus:

»Man hat Sie in Freiheit gelassen, und ich beglückwünsche Sie dazu. Aber versetzen Sie sich gefälligst einmal an unsere Stelle. Angenommen, es bestehen nur zehn Prozent Wahrscheinlichkeit, dass Sie schuldig sind, damit geben Sie, mein lieber Spencer, uns eine zehnprozentige Möglichkeit, einem Mörder die Hand zu drücken. Ein Gentleman bringt seine Mitbürger nicht in eine solche Lage.«

Damit haben wir das Kernproblem Spencers: auch wenn er die Polizei davon überzeugen sollte, das er mit dem Mord nichts zu tun hat, so hat er immer noch mit den Kleinbürgern zu kämpfen, die ganz und gar nicht der Meinung sind, dass er unschuldig ist. Vor allem kann er es machen wie er will, er wird, da kein Schuldiger gefunden wird, mit einem Makel leben müssen: zieht er sich zurück, so heißt, es: »Der versteckt sich, weil er etwas zu verbergen hat.«; geht er auf die Leute zu und lebt sein Leben, so bekommt er Worte wie die oben zitierten, an den Kopf geworfen. So ist der Weg doch schon vorher bestimmt: es gibt zwei Verlierer: Bella, die schon tot ist, und Spencer Ashby der vorverurteilt wurde.

Wir sollten uns nichts vormachen und jetzt sagen, wir leben ja in einer Stadt oder die Zeiten haben sich geändert. Die Mechanismen sind geblieben und ich behaupte einmal, dass sie heute sogar noch stärker zur Geltung kommen. Ashby hat keine Probleme mit der Presse: die Journalisten sind gekommen, man hatte ihm empfohlen diese höflich zu behandeln, mit ihnen zu reden und dann würde man sich keine Feinde machen – das hat so gesehen auch fantastisch geklappt. Allerdings wäre das in der heutigen Zeit schon ein wenig anders: es wird nach immer härteren Strafen gerufen und bevor man vor Gericht steht, hat die Öffentlichkeit schon ein Urteil gefällt. Die Öffentlichkeit übernimmt die Meinung von Journalisten und Politikern, die mit ihrer Tastatur und ihrem Mundwerk unheimlich schnell die Wahrheit erkannt haben.

Jeder kann ein Mörder werden. Das wird leider immer wieder vergessen.