Über die Story
Mein Richter,
ein Mensch, ein einziger soll mich verstehen. Und ich möchte, dass Sie dieser Mensch sind.
Wir haben in den Wochen der Untersuchung lange Stunden zusammen verbracht, aber da war es noch zu früh. Sie waren ein Richter, Sie waren mein Richter, und es hätte so ausgesehen, als ob ich versuchte, mich zu rechtfertigen. Dass es darum nicht geht, wissen Sie jetzt, nicht wahr?
Der sehr, sehr lange Brief ist an einen Untersuchungsrichter gerichtet – Ernst Coméliau. Er hatte mit Dr. Charles Alavoine zu tun, der wegen Mordes vor Gericht stand.
Mit fünfundzwanzig Jahren legte Alavoine sein Examen ab und ließ sich in einem Dorf namens Ormois, in der Nähe von La Roche, nieder, in dem ihm seine Mutter eine Arztpraxis gekauft hatte. Der alte Arzt hatte sich zur Ruhe gesetzt, und so konnte Alavoine auf einem festen Kundenstamm bauen. Das Geschäft lief gut, da er nicht nur der einzige Arzt in der Gegend war, sondern auch gleichzeitig Apotheker. Der alte Arzt, Marchandeau, stand ihm weiterhin mit Rat und Tat zur Seite. Schwierige Fälle konnte er mit ihm erörtern.
Zudem hatte er auch eine Tochter, die wohlgeraten war. Es ist die Mutter, die ihn mit Jeanne Marchandeau verheiratet, und in dem Haus hat nicht Jeanne das Kommando, sondern die Mutter. Der Arzt beschreibt es gegenüber seinem Richter so, dass seine Mutter eine Tochter bekommen hätte: eine nette und gefügige. Diese Tochter macht sie auch zur Großmutter. Es war an sich eine glückliche Familie, die auch der alte Marchandeau zu schätzen wusste, der hin und wieder hineinschneite. Gut, der Landarzt wusste Gelegenheiten zu nutzen, die sich ihm bei anderen Frauen anboten, aber es war in dem Sinn keine Untreue (erinnert so ein bisschen an »Das blaue Zimmer«). Aber dieses traute Glück nimmt ein Ende, als Jeanne bei der Geburt des zweiten Kindes stirbt.
Nach ein paar Jahren in der Praxis auf dem Dorf, zieht es die Familie in die Stadt. La Roche-sur-Yon ist das Ziel, die nächst größere Stadt. Dort beziehen sie ein kleines, fast neues Haus. Der Haushalt wird jetzt von einem Dienstmädchen besorgt, die Mutter Alavoines hat nur noch die »Leitung«. Der Arzt wird in die dortige Arzt-Gesellschaft eingeführt. Dort findet er auch seine zweite Frau, beziehungsweise sie findet ihn. Armande ist Witwe und nutzt die Gelegenheit einer Diphtherie-Erkrankung von Charles ältester Tochter, um sich im Haus als Pflegekraft einzuquartieren. Sie bleibt.
Es ist nicht Liebe, was die beiden fesselt. Armande ist praktisch und möchte jemanden zum dirigieren haben. Jetzt hat sie eine kleine Familie. Die Mutter des Arztes gibt das Kommando ab und wird ein Schatten, Charles Alavoine ist zu bequem um ein Kommando zu geben und die Kinder zählen in diesem Zusammenhang nicht. Wahrscheinlich freuen sie sich, wie eine richtige Mutter zu haben. Verdenken kann es ihnen keiner. Aber von Liebe zwischen der Witwe und dem Witwer kann man nicht reden.
Das ist so lange kein Problem, wie Armande und Charles bequem nebeneinander leben können. Aber eines Abends kurz vor Weihnachten verpasst der Arzt einen Zug.
Ein Beamter hat mir eine Glastür geöffnet, und als ich auf den Bahnsteig kam, fuhr der Zug ab. Da ich so beladen war, konnte ich nicht mehr aufspringen. Einer meiner Freunde, Deltour, der Besitzer der Tankstelle, der an einer Abteiltür stand, hat mir gewinkt. Es ist komisch, wie lang ein Zug zu sein scheint, den man verpasst hat. Immer noch fuhr ein Waggon an mir vorüber.
Als ich mich umdrehte, sah ich ganz in meiner Nähe die junge Frau mit den beiden Koffern stehen.
»Wir haben ihn verpasst«, hat sie gesagt.
Ja, das waren die ersten Worte gewesen, mein Richter, die Martine zu mir gesagt hat. Während ich sie niederschreibe, fällt mir das zum ersten Mal auf.
An diesem Abend, in dieser Nacht, verliebt sich Charles Alavoine zum ersten Mal. Mit dieser Begegnung bringt er erhebliche Unruhe in sein Familienleben und schmeißt alles über den Haufen.
Das Buch wurde mit Fernandel als »Le fruit défendu« 1952 verfilmt. Fernandel scheint, ohne dass ich den Film gesehen habe, die richtige Besetzung zu sein: er sieht so aus, wie ihn Simenon schildert – nicht sehr schön.