Über die Story
Nein, die ganz große Sympathie hat Georges Simenon für die Leute nicht. Das merkt man in dieser Reportage, die der zweite Teil einer Artikelserie ist, die im Oktober/November 1932 in der Zeitschrift »Voilà« (Nr. 81-86) unter dem Obertitel »L’heure du nègre« erschienen ist. Er hält, so ist zumindest mein Eindruck, diese Leute an diesem Ort für überflüssig.
Welche Leute? Welcher Ort? Die Antwort ist einfach. Simenon besuchte eine Siedlung im Nordosten von Belgisch-Kongo. Die damalige Kolonialmacht Belgien setzte in ihren Kolonialgebieten Verwalter ein, die Beamtenstatus hatten und für Ruhe und Ordnung in den Gebieten sorgen sollten.
Belgisch-Kongo! Das bewagt, dass diese Station hier wie eine Art Park mit tadellos gepflegten Blumenbeeten angelegt ist, dass sich an jeder Biegung Gebotsschilder befinden wie »Rechts fahren!«, »Gefährliche Kurve!« oder »Durchfahrt verboten«! Fehlte nur noch der Hinweis auf eine Einbahnstraße!
Nun weiß ich nicht, was Simenon gegen Einbahnstraßen hat, vermute aber einfach mal, dass es vielleicht mit der Verkehrsdichte in Nordosten von Beglisch-Kongo zu tun hat. Man macht schnell aus, dass diejenigen, die sich albern machen, nicht die Einheimischen sind, sondern ihre weißen Verwalter.
Der Reporter ist bei einem Verwalter untergebracht, der Mitte zwanzig ist (den Simeon als Endzwanziger jung empfindet) und seiner reizenden Frau, die hervorragend Kuchen backen kann (bleibt nur anzumerken, dass Simenon schon immer wusste, was wesentlich ist). Mit diesem Verwalter macht er sich auf zu dem, was die Einheimischen »großes Palaver« nennen. Einmal im Jahr treffen sich zwölf Häuptlinge aus der näheren Umgebung und richten über ihre Untergebenen. Der Verwalter hat dabei die Funktion des obersten Aufsehers und Schriftführers. Jeder Gerichtsfall wurde von ihm detailliert dokumentiert und nach dem Urteil an die Kolonialbehörde in Leopoldville überstellt. Diese kontrollierte dieses Urteil – so zumindest die Vorgabe – und gab dieses Urteil dann weiter nach Belgien, um in irgendwelchen Archiven zu verschwinden.
Diese Fälle drehten sich vor allem um das Eine: die Beziehung zwischen Mann und Frau. Eine Musterfall sei hier einmal angeführt. Es stehen drei Leute vor Gericht, eine Frau und zwei Männer. Der erste Mann führt an, dass seine Frau nicht willig ist, mit ihm zu schlafen und sich außerdem mit einem anderen verlustiere. Das streitet die Frau nicht ab, macht aber geltend, dass sie schon mit ihrem Mann geschlafen hat, es diesem aber an Potenz fehlen würde, weshalb sie fordere, dass sie von ihm geschieden wird und ihre Mitgift (darunter ein paar Ziegen) zurückbekomme, um sich am Markt neu zu orientieren. Der Geliebte sagt, dazu befragt, aus, er habe nie mit der Frau geschlafen. Die Häuptlinge urteilen in diesem Fall, dass die Frau die Scheidung nicht bekommt und der Geliebte 18 Peitschenhiebe bekommt.
So geht es munter weiter, ein Fall ähnelt dem anderen, und Simenon kann sich nicht des Eindrucks erwähren, dass dieses Schauspiel allein für die Verwalter aus dem fernen Belgien veranstaltet werden. Es dürfte sehr interessant sein, in belgischen Archiven zu stöbern…