Über die Story
Was Neid bewirken kann. Donald soll sich eigentlich auf den Weg machen, um seinen Freund zu suchen. Statt dessen begibt er sich in einen Schuppen, um Schutz vor dem Sturm zu suchen. Tage vorher hätte er vielleicht noch sein Leben für seinen Freund gegeben. Aber an diesem Abend hatte er beobachtet, wie einfach sich sein Freund Ray hingeben konnte. Aus der Zuneigung war Hass geworden. Die Studie eines Wandels.
Irgendwo konnte man einmal den bösen Spruch aufschnappen, dass es einem richtig gut geht, wenn es dem besten Freund besonders dreckig geht. Das ist eine maßlose Übertreibung, aber häufig genug konnte man im Film beobachten, wie der beste Freund mit gewissem Neid irgendetwas aufgenommen hat und sich später über den Verlust freute. Ob so etwas im Leben vorkommt, sei einmal dahingestellt. Man sollte sich hüten, dieses dem besten Freund mitzuteilen, es sei denn, man hat von Hause aus eine lockere Zimmer und das Gegenüber weiß es so zu nehmen, wie es vielleicht gemeint ist – ironisch.
Ray Sanders hat sich in seinen letzten Minuten vielleicht gefragt, ob er sich auf seinen Freund Donald Dodd wirklich so verlassen konnte, wie er es immer geglaubt hat; ob die Hochschätzung, die er Donald entgegengebracht hatte, verdient war. Die beiden Freunde kommen spät in der Nacht mit ihren Frauen von einem Empfang zurück. Es herrscht ein katastrophaler Schneesturm und zumindest die Männer sind angetrunken. Völlig unmöglich ist es, mit dem Auto direkt vor das Haus zu fahren – ein stattliches Stück müssen die Herrschaften gehen. Voran die Frauen, gefolgt von den Männern, macht man sich auf den Weg. Im Haus angekommen, bemerken die Frauen und Donald, dass Ray nicht gefolgt ist. Widerwillig, aber letztlich unvermeidlich ist die Suche Donalds nach seinem Freund. Bestimmte Sachen lehnt man einfach nicht ab.
Der Weg führt Donald zur Scheune des Grundstücks. An der ist der heimkommende Trupp nicht vorbeigekommen, aber Donald hat nicht die Absicht, durch den Schnee zu stapfen und sich selbst in Gefahr zu bringen. Er setzt sich auf die Bank in der Scheune und fängt an, zu rauchen und abzuwarten. Dabei zieht er ein Resumée: Der Empfang bei Ashbridge konnte nicht als voller Erfolg gewertet werden. Donald Dodd erwischte seinen Freund Ray mit der Frau des Gastgebers im Bad, als die beiden sich verlustierten. Ray hatte davon vielleicht nichts mitbekommen, bei Patricia, der Frau, sah es ein wenig auf. Sie schaffte es, in der unmissverständlichen Situation noch, Donald zuzuzwinkern. Nach dem Motto: »Du hast Dich ja nie getraut!«. Donald nahm dies nicht sportlich, seine freundschaftlichen Gefühle begannen zu wanken, und als sich an diesem Abend die Gelegenheit bot, Revanche zu üben, nahm er sie an. Auf der Bank sitzend wurde ihm klar, dass er Ray alles neidete, ihn gar hasste.
Simenon lässt dem Leser wenig Platz für Interpretationen: Donald erzählt die Geschichte aus seiner Perspektive, jedes Wort kann für bare Müntze genommen werden. Sagt er, er würde seinen Freund hassen, kann sich der Leser nicht sagen, so wird es nicht gemeint sein, sondern muss sich eingestehen, dass die menschlichen Abgründe nicht zu fassen sind. Wird man damit nicht auf die Probe gestellt: Würde man sich in der gleichen Situation auf den Weg in die Schneewüste machen oder die Gelegenheit zur Rache nutzen? Rachegefühle sind doch auch menschlich, aber dient das Rechtfertigung für so ein Verhalten?
Das Buch heißt nicht umsonst in der deutschen Übersetzung »Das zweite Leben«. Donald erlebt mit der Entscheidung, nicht zu suchen, eine Wiedergeburt. Natürlich lässt sich nicht sagen, ob eine ausführliche Suche nach Ray, das Leben dessen gerettet hätte, aber es wäre zumindest Seelenbalsam gewesen. Dieses Balsam braucht Donald nicht, er hat keinerlei Gewissensbisse und tritt mit offenem Blick den beiden Frauen gegenüber und verkündet, er hätte nichts gefunden. Mona, Rays Frau, hinterfragt diese Auskunft nicht; Isabel, Donalds Frau, spürt, dass sich ihr Mann innerhalb kürzester Zeit geändert hat und sollte in den nächsten Tagen und Wochen, noch viel Gelegenheit haben, sich zu wundern.
Isabel hatte die schicksalhafte Begabung, Menschen zu durchschauen. Sie machte sich auf den Weg in die Scheune, und beseitigte die Zigarettenstummel, die von der nächtlichen Warterei übergeblieben waren. Damit war ihr auch klar, dass ihr Mann gar nicht auf der Suche gewesen war. Dieser Durchblick fehlte Donald: er reagiert mehr als erstaunt, als er von Mona erfährt, dass es nicht Donald sein sollte, der von Neid erfüllt ist, sondern dass es Ray war, der das Leben, das Donald und Isabel führten, bewundert. Die Ruhe im Leben, die festen Ziele und die Familie: Ray, dem Werbefachmann, fehlte mehr im Leben, als den materiell schlechter gestellten Dodds.
Der Rechtsanwalt Donald mag sich dieser Argumentation nicht abschließen, er versucht dieses einmalige Ereignis für eine Richtungsänderung zu nutzen. Die Entscheidung Monas, ihn als Testamentsvollstrecker zu engagieren, macht es ihm leicht. Er beginnt eine Affäre mit Mona. Diese lebt er in größerer Entfernung – New York – aus, seine Umgebung ist aber nicht so blind, als dass sie nicht mitbekommen würde, was sich abspielt. Die Bewohner der kleinen Stadt, in der Donald lebt, zerreißen sich den Mund über den Lebenswandel ihres Rechtsanwalts. Es bleibt auch nicht unbekannt, dass es sich bei der Geliebten Dodds um die Witwe seines besten Freundes handelt; da bleibt es auch nicht aus, dass sich einige Leute weitergehende Gedanken machen. Hat Dodd den Tod seines Freundes herbeigeführt?
Donald Dodd steht über den Dingen. Ihn scherrt nicht, was Familie, Freunde und der Rest seiner Umgebung von ihm denken, er lebt sein Leben, wie er mag. Sich dabei einredend, dass er schon immer so leben wollte. Ein Mann im Aufbruch, mit enormer Geschwindigkeit startend (besten Freund nicht retten – Testamentvollstrecker werden – Witwe übernehmen), die Wand, auf die er zurast, nicht sehend.
Das ganze Buch ist ein Kammerspiel. Simenon lässt nur wenige Figuren auftreten, die meiste Zeit lebt der Leser mit den Gedanken Donalds. Wie er sein Leben und sein Handeln aufrechnet. Ich habe das Buch in aller Früh vor einer Dienstreise gegriffen, nicht ausgesucht, und hatte es am Abend ausgelesen. Bei Ich-Erzählungen, das ist das Schöne, kann man davon ausgehen, dass der Erzähler überlebt. Das hat mir einige Zuversicht für ein gnädiges Ende gegeben. Diesen Gedanken habe ich schon nach kurzer Zeit ad acta gelegt; kein Grund, das Buch aus den Händen zu legen und den Kopf in den Sand zu stecken. Ich musste wissen, ob Donald ein neues Leben beginnt, der Scharfsichtigkeit seiner Frau entrinnt, oder ob er in seinem alten Leben, das ihn nicht befriedigte steckenbleibt. Das Entkommen Donalds ist ein simenontypisches, ein neues Leben beginnt er aber allemal.