Über die Story
Manche Cover sind nicht leicht zu erklären. Zum Beispiel das von meiner Ausgabe des »Erpresser«. Abgebildet ist Paris, gut sichtbar durch den Eiffelturm; der Roman spielt allerdings in Rouen und nur für einen kleinen, wenig entscheidenden Augenblick wird die Handlung nach Paris verlagert. Wichtig ist diese Tatsache nicht: es ist egal, ob der Roman in Rouen, Tours oder Paris spielen würde. Das städtische Leben spielt nur zu einem kleinen Teil eine Rolle.
Der Erfolg, sich im Leben richtig zu verheirateten spielte (und spielt) im Leben von Frauen (ich gebe es zu: auch von Männern) eine wichtige Rolle. Früher war mit einer solchen Heirat allerdings vielmehr als heute eine materielle Absicherung verbunden. Die meisten Frauen waren Hausfrauen und so war einzig und allein das Gehalt des Mannes entscheidend. Hatte man reich geheiratet und wenig Kinder, so konnte man die Zukunft sorglose betrachten; hatte man einen mittellosen Ehemann geheiratet und bekam dann noch viele Kindern, so musste man sich mehr Gedanken machen.
Laurence gehörte in die letztere Kategorie und machte sich so ihre Gedanken, auch wenn die Töchter, die allesamt noch im Hause wohnten, etwas dazuverdienten. Eine ihrer Schwestern hatte nicht reich geheiratet, aber wenigstens war der Mann durch seine Arbeit sehr wohlhabend geworden und hatte jetzt in Rouen ein großes Lebensmittelgeschäft. Unmittelbar war sie damit auch verknüpft, denn zum einen sorgte ihre wohlhabende aber nicht sehr glückliche Schwester dafür, dass sie einige Sachen ohne Bezahlung bekam und zum anderen hatte ihr Schwager dafür gesorgt, dass Laurence Mann – Charles Dupeux – bei ihm Geschäft als Hauptbuchhalter unterkam. Der Kontakt zu ihrem Schwager war für Laurence etwas vergiftet, denn ein Gefühl der steten Dankbarkeit musste immer vorhanden sein und es war nicht angenehm, dass sie bei den wenigen familiären Treffen beobachten musste, dass Charles auch bei diesen wie ein Angestellter behandelt wurde.
Die Krise wird durch Charles ausgelöst: die Familie Dupeux kannte bestimmte Riten. Man setzte sich zum Abendbrot zusammen und aß gemeinsam. Das Abendessen begann, wenn der Vater nach Hause kam und sich an den Tisch setzte. Die Töchter, vier an der Zahl, waren mit der Mutter um den Tisch versammelt, als der Vater heimkam, sich kommentarlos auf den Weg auf dem Boden machte und sich dort einschloss. Keiner in der Familie verstand, was es mit diesem Verhalten des sonst eher Unscheinbaren auf sich hat. Man begann zu essen, war aber sehr beunruhigt, als man das Rücken von Möbeln vom Dachboden hörte.
Die erste, sehr menschliche, Reaktion war: er wird sich schon beruhigen und er wird auch sicher seine Gründe haben. Als er am nächsten Tag allerdings nicht von dem Dachboden herunterkommt, ohne zu essen, ohne einen Ton zu sagen, wird Laurence sehr unruhig. Ein Familienrat wird einberufen und Bruder, Schwester, Schwager und Kinder beratschlagen, was man denn machen kann. Der Schluss, man könne eigentlich gar nichts tun, kommt wenig überraschend; jedes Gesprächsangebot an Charles wird abgelehnt. Charles macht sich eine gute Zeit auf dem Dachboden.
In ihrer Not weiß sich Laurence nicht anders zu helfen, als ihren reichen Schwager um Hilfe zu bitten: er solle als Chef mal mit Charles sprechen und ihn zur Vernunft bringen. Das er diese Bitte gern erfüllen würde, wäre zuviel gesagt, denn Henri Dionnet, wie der Chef und Schwager hieß, vermied es, seinen Fuß in das Haus der Dupeuxs zu setzen. Aber in diesem Fall, was blieb ihm übrig, musste er es tun. Er mochte Charles vielleicht nicht leiden, aber immerhin war er sein Hauptbuchhalter und kannte sich im Geschäftsbetrieb der Firma bestens aus. Henri versucht es nicht nur mit einem Gespräch, er macht sich auch die Mühe, die Unterlagen von Charles zu untersuchen, auf die Möglichkeit hin, dass Laurence Mann vielleicht verstörende Nachrichten bekommen hatte. Dabei macht Henri eine Entdeckung, die ihn erbleichen lässt.
Er lässt sich auf ein Gespräch mit seinem Schwager ein, versucht ihn noch zu überreden, den Dachboden zu verlassen. Kurz nachdem er zu Hause angelangt ist, erleidet Henri einen Herzinfarkt, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Was ihn erschreckt hat? Henri Dionnet hatte erkannt, dass es jemanden gab, der wusste, wie er zu seinem Reichtum gekommen war und in was für Abhängigkeiten er stand. Gleichzeitig musste er erkennen, dass es wohl Charles gewesen war, der ihm Briefe geschrieben hatte, die keine Forderungen enthielten, aber in wenigen Zeilen klar machten, dass er Bescheid wusste.
Von Erpressung konnte gar nicht die Rede sein, denn Charles hatte nie Forderungen an Henri gestellt. Man hat fast den Eindruck, er hatte die Briefe aus reinem Vergnügen an seinen Schwager geschickt, sich damit die Tage erleichternd. Wenn er auf seinem Hauptbuchhalterplatz saß und seinen Schwager betrachtete, konnte er sich lächelnd seinen Teil denken. Aber so ist man kein Erpresser beileibe nicht.
Trotzdem zählt Charles auf dem Dachboden, bevor er herunterkommt und das Familienleben ordentlich umkrempelt, sein Geld. Wie gibt man es aus, ist eine seiner Fragen und sein Ausstieg aus dem Dachboden, hatte vielleicht einfach den Grund, sich in Ruhe darüber klar zu werden. Charles, da kann man gewiss sein, findet eine überraschende Lösung.
Das Familienleben in diesem Buch wird durch die fast erwachsenen Töchter geprägt, von denen einige recht flügge sind. So wird die Geschichte hin und wieder ein wenig zur Seite getrieben. Die Szenen des Familienlebens erinnern ein wenig an »Das Haus der sieben Mädchen«, das Simenon zwei Jahre zuvor geschrieben hatte, und in dem es weniger dramatische Noten gegeben hatte. An Dramatik und Spannung verliert der Erpresser-Roman deshalb nicht.