Über die Story
Die Welt der Seeleute ist eine ganz eigene. Das war früher so, das ist heute noch so. Wir »Landratten« bekommen kaum etwas davon mit. Hin und wieder mal eine Meldung, wenn ein besonders großes Schiff vom Stapel läuft oder in einen kleineren Hafen einläuft. Manchmal sinken Schiffe auch, darüber wird dann auch berichtet und hin und wieder kommen Reedereien in wirtschaftliche Schwierigkeiten und damit dann auch die Schiffe, die in fremden Häfen liegen - worüber dann auch berichtet wird. Sonst spielt diese Art von Verkehr für uns keine Rolle, obwohl ein erheblicher Teil dessen, was wir konsumieren, einen Großteil seines Weges zu uns auf dem Schiffswege bewältigen durfte.
Heute fahren die Schiffe nach Fahrplänen, die den Charakter von Empfehlungen haben können, da die Reisen beeinflusst werden von der Witterung, den Arbeiten in den Häfen und Kundenwünschen, so dass es auch plötzlich zu Routen-Änderungen kommen kann. Die Schiffe werden mit GPS überwacht, womit die Reederei jederzeit weiß, wo welches Schiff ist und mit den Daten der Beladung und des zu erwartenden Wetters sauber kalkulieren kann, mit welchen Treibstoff-Kosten zu rechnen ist.
Würden die Reeder heute in die Zeit zurückkatapultiert werden, in denen diese Geschichte spielt, sie würden wohl verzweifeln. Da lag die »Vasco« vor einer Flussmündung in Äquatorialafrikas, die Simenon nicht weiter beschreibt. Ungefährer als »einem dieser vier oder fünf Ströme Äquatorialafrikas zwischen Matadi und Kamerun geht es kaum. Schließlich handelt es sich um eine Küstenlinie von etwa 2000 Kilometern. Da unmögliche Vergleiche immer gut ankommen - das ist in etwa die Strecke zwischen Konstanz und Istanbul.
Die Besatzung des Schiffs wartete auf eine Lieferung, die über den Fluss kommen sollte und die Warterei dauerte schon drei Wochen. Der Plan war, dass es von dieser Flussmündung zur nächsten weitergehen sollte. Dort würde man wieder warten und hoffen, dass die Lieferung bald kommt. Die Mannschaft beschäftigte sich mit dem Schiff und wartete.
Die Temperaturen lagen in den Mittdreißigern und das ist selbst auf einem Schiff nicht gerade angenehm. An der Spitze der Mannschaft steht immer der Kapitän. Der Kapitän auf der »Vasco« hieß Josse. Er hatte mit Hand in Hand mit dem Ingenieur zusammen zu arbeiten. Dann folgten in der Rangordnung die Offiziere, die aber unter sich blieben und dann kam der Rest der Mannschaft.
Der Kapitän hatte nur ein kleines Problem: Er konnte seinen Ingenieur überhaupt nicht leiden. Da waren zum einen die schlechten Manieren des Ingenieurs und das ungepflegte Äußere. Noch größere Schwierigkeiten hatte der Kapitän aber mit dem lockeren Lebenswandel. Obwohl der Ingenieur mit dem Namen Verbe verheiratet war, pflegte er seine Hurereien auch auf dem Schiff und war nicht nicht zu schade, die Mannschaft beim Organisieren dieser mit einzuspannen.
Der Tag, dem der Leser in der Geschichte folgt, verlief wie so viele vor und auf dieser Reise. Der Kapitän nahm seine Mahlzeit mit Verbe ein. Dieser hatte nicht nur unappetitlichen Fisch für eine Fischsuppe gefangen, er aß diesen gewohnt verabscheuungswürdig mit fürchterlichen Manieren und scherte sich nicht darum, wie was für eine Wirkung er auf seine Umgebung hatte. In erste Linie wirkte Verbe auf den Kapitän, der auch gern ein gutes Gespräch angefangen hätte. Aber er war der festen Überzeugung, dass dies mit Verbe nicht möglich war. Dann kam auch noch ein Besatzungsmitglied und kündigte dem Ingenieur leise die Ankunft einer Prostituierten an. Der Kapitän hatte es nicht genau gehört, wusste aber worum es geht und um seinen Blutdruck konnte es nicht zum Besten stehen.
Während sich der Ingenieur mit einer Einheimischen vergnügte, flanierte der Kapitän über sein Schiff und ließ seine Gedanken schweifen. Er freute sich, wieder zurück nach Hause zu kommen. Da, wo alles sauber und kultiviert war. In Gedanken spielte er die letzte Heimkehr durch, bei der er - zu früh nach Hause kommend - seine Schwägerin dabei erwischte, dass sie einen Geliebten hatte.
Von einer Sekunde zur anderen, von einem Satz zum nächsten, folgen wir aber Josse nicht mehr über das Schiff und betrachten, wie er sich weiter und weiter seinen Groll gegen den Ingenieur steigert. Sondern urplötzlich realisieren sowohl Josse wie auch der Leser, dass sich bei seiner letzten Heimkehr etwas Ungeheuerliches, gar Unverzeihliches ereignet hat. Der Groll gegen Verbe verschwindet und Josse braucht den Ingenieur, um zu reden. Denn die Gepflogenheiten an Bord erlauben es ihm nicht, sich über Privates mit den Offizieren oder anderen unteren Rängen zu unterhalten.
Ausgerechnet mit dem Ingenieur!
Unter den Erzählungen von Simenon gibt es viele, bei denen ich nach dem letzten gelesenen Satz nur mit den Schultern zuckte und dachte: »Na und?« Diese gehört definitiv nicht dazu. Sie ist für mich eine der besten Erzählungen von Simenon, da er es schafft, den Leser am Anfang auf eine falsche Fährte zu setzen. Ich war der festen Überzeugung, dass mir eine Geschichte erzählt wird, in der es um die Eskalation der Beziehung zwischen dem ersten und dem zweiten Mann auf dem Schiff geht. Denn der Chef auf dem Schiff kann seinen Stellvertreter, an den er gekettet ist, nicht riechen. Das Verhältnis ist wie eine Ehe, aus der man aus welchen Gründen auch immer, nicht herauskommt. Dann, man ahnt es schon, bekommt die Geschichte eine ganz andere Drehung.