Der Schlüssel
Denkwürdiger Beginn
Formulierte Simenon den Beginn der Erzählung in der »Hören-Sagen«-Form, weil das Verhältnis zu seiner Mutter schwieriger Natur gewesen war und in seinen Beziehungen mit Frauen deshalb das Wettbewerbsthema zwischen Schwiegermutter/Schwiegertochter nie ein Problemfeld darstellte? Das könnte man fast annehmen. Obwohl die Küche meiner Mutter bei vielen Gerichten immer noch eine Referenz ist und ich im siebten Himmel schwebe, wenn es meine Lieblingsgerichte bei ihr gibt, würde ich nicht behaupten, dass ich mit einer gewissen Heiterkeit zurück nach Hause komme. Aber wer weiß, was die Mutter-Sohn-Beziehung bei anderen noch so hergibt, dass sie in einen solchen Zustand der Heiterkeit versetzt werden.
Die Mutter in diesem Fall ist aber nicht Henriette sondern der Quai des Orfèvres, und der Heimkehrer ist nicht Simenon, sondern Torrence. Der hatte sich am Quai des Orfèvres eingefunden, war durch die Büros geschlendert, um mit alten Kollegen zu plaudern. Die Heiterkeit ist auch nur ein Aufhänger, denn oft mag bei einer späteren Heimkehr in die Büros der Agentur eine solche Heiterkeit zu spüren gewesen sein. In diesem speziellen Fall, in der in der Tat ein nackter Mann eine Hauptrolle spielt, kam Torrence gar nicht zurück in die Büros, sondern sah sich plötzlich in einen Zug gesetzt und in den Süden fahren.
Trotzdem ist es ein sehr schöner Anfang.
Die Sache mit dem nackten Mann
Als ich den Artikel anlegte und die Geschichte nicht kannte, fragte ich mich, wie ich denn ein Bild von einem angemessen nackten Mann finde. Mir schien das Bild, dass ich für die Illustration verwendet habe, wirklich ideal. Ästhetisch einwandfrei und dabei nicht anstößig. Besser konnte ich es nicht treffen.
Dann kam die Gelegenheit die Erzählung zu lesen. Das Bild ist immer noch ästhetisch und nett anzuschauen. Nur es passt nicht. Der nackte Mann der Geschichte war ein kleiner, dicker Mann mit markantem Bart. Ich hätte in Bild von mir nehmen können. Problem: Es wäre nicht einmal zu zehn Prozent so betrachtenswert wie das gewählte Bild. Also bleibt es…
Kommen wir zur Kernfrage: Was hat es mit dem nackten Mann auf sich? Wo kann Torrence am Quai des Orfèvres auf einen nackten Mann stoßen, der es auch noch schafft, den ehemaligen Inspektor von Maigret nach seinem Belieben zu dirigieren?
Hier greift Simenon auf sein Detailwissen um die Vorgänge in der Präfektur zurück: An bestimmten Tagen führte die Polizei Razzien durch, dafür soll es – wenn man Simenon hier glauben darf – feste Tage gegeben haben. Am Morgen nach einer solchen Razzia war Torrence bei seinen Kollegen. Dabei kam er auch bei den Kollegen vom Erkennungsdienst vorbei, die damit beschäftigt waren, die Eingefangenen »zu verarzten«. Die Gefangenen standen nackt in einer Reihe und warteten darauf, dass sie dran waren.
Ein Mann fiel Torrence ins Auge, weil er ihm bekannt vorkam. Der Mann war klein und dick und hatte einen sehr markanten Bart, von dem allerdings nicht mehr viel über war. Torrence war sich ziemlich sicher, dass es sich nicht um einen alten »Kunden« von ihm handelte…
Nein! Das ist unmöglich! Außerdem ... Aber nein, wirklich! Torrence ist ja nicht verrückt ... Es ist nicht möglich, dass dieser splitternackte Mann, ein- gezwängt in der Schlange zwischen einem Araber und einem kleinen schmächtigen Jüngelchen, der berühmte
Advokat Duboin ist ...
Aber der war es! Als der Rechtsanwalt erkennt, dass Torrence ihn wiedererkannt hat, gibt er ihm Zeichen. Der Mann wusste sogar auf Anhieb auch den Namen des ehemaligen Inspektors und bittet ihn, ihn am Eingang zu erwarten. Heraus kommt der Mann in zerlumpter Kleidung.
Erst Torrence, dann Émile
Duboin lässt sich von Torrence zu den Büros der Agence O bringen. In der Straße befindet sich ein Friseur namens Adolphe und da dieser Friseur zu seiner Klientel Schauspieler zählt, kann er auch mit Accessoires wie künstlichen Bärten dienen. Der Advokat hatte seinen Bart ein wenig aufzupeppen, weshalb er die Dienste des Friseurs in Anspruch nimmt; es werden noch Sachen aus der Wohnung des neuen Klienten besorgt. Anschließend kann er sich wieder in der Öffentlichkeit sehen lassen.
Pickfein, wie Duboin nun war, nimmt er Torrence mit ins »Café de Paris« und »verwöhnt« den Privat-Detektiv richtig. Sie waren aber nicht mehr allein unterwegs. Émile war als kleiner Angestellter bei den Aktivitäten in der Agentur dabei und dafür gesorgt, dass der ehemalige Taschendieb Barbet sich dem Pärchen an die Fersen heftete.
Zu passierte zweierlei: Duboin setzte den müden Torrence in einen Zug nach Pau unter dem Vorwand, dass er sich um eine in den Fall involvierte Klientin kümmere. Barbet griff auf alte Tricks zurück und klaute Duboin einen Schlüssel aus der Tasche. In einer Kneipe fand eine indirekte Übergabe des Schlüssels an Émile statt und plötzlich sah sich der wahre Chef der Agence O von einem fremden Mann verfolgt.
Stand anfangs noch Torrence im Mittelpunkt, wechselte durch den geschickten Schachzug Duboins der Fokus auf Émile, der alle Fäden in die Hand nimmt und es schafft, während er verfolgt wird, den Verfolger zu verfolgen.
Die dritte Geschichte aus dem Agence O-Zyklus kommt mit einer Reihe von netten Einfällen daher. Ich persönlich finde die präsentierte Lösung des Falls ein wenig unspektakulär und dem eigentlich Einfall und der Story nicht würdig. Aber vorher hat man ja seinen Spaß…
Zu korrekt?
Ein wenig sensibler bin ich in den letzten Jahre in bestimmten Sachen schon geworden. Zwar bin ich immer noch der Meinung, dass man Titel von Kunstwerken nicht ändern sollte, aber hätte man hier:
Wenigstens sechzig Männer jeden Alters und jeder Haarfarbe, jung und alt, blond, schwarz, darunter sogar richtige Neger, standen splitterfasernackt da und warteten, wie bei der Musterung.
… sich wirklich einen abgebrochen, wenn man das verpönte Wort durch ein anderes ersetzt hätte. Der Sinn hätte sich dadurch nicht geändert.