Über die Story
Stellt sich Simenon in seinen Romanen nicht immer wieder selbst dar. Schon in »Der reiche Mann« hatte ich das Gefühl, dass es der Autor selbst ist, der sich präsentiert. Reich, erfolgreich und doch nicht glücklich. Wenn so ein Thema immer wieder auftaucht, liegt es nicht daran, dass der Autor sich selbst verarbeitet. Seine wechselnden Beziehungen könnten dafür ein Indiz sein…
Jean Chabot ist Gynäkologe und Chirurg, ist Besitzer einer eigenen Klinik und Professor. Er wohnt in einer sehr schönen Ecke von Paris, hat eine immer jünger werdende Frau und drei Kinder, die auch ihren Weg zu machen scheinen. Chabot wird gern zu Gesellschaften eingeladen, da man sich gern mit seinem Namen schmückt; Gelegenheiten, die er selten und wenn nur ungern wahrnimmt. Wie es sich für einen Franzosen der oberen Gesellschaftsschicht zu gehören scheint, hatte er eine Angestellte, die praktischerweise auch seine Geliebte ist. Alles Voraussetzungen, um besonders glücklich zu sein oder halt auch besonders unglücklich. Chabot ist Letzteres und versucht in dieser Geschichte zu ergründen, warum.
Sein Leben hatte vor einigen Monaten einen Knacks bekommen. Es war »normal«, dass er hin und wieder eine Affäre mit einer Frau aus seiner Klinik anfing: Dabei machte er keine großen Unterschiede, ob es sich um ein Zimmermädchen oder eine Krankenschwester handelte – Chabot war in dieser Beziehung nicht ideologisch verblendet (Simenon auch nicht). Eines nachts stöberte er durch seine Klinik und entdeckte dabei eine junge Frau, die er noch nicht kannte und die ihm auf Anhieb gefiel. Seine Angestellte war in tiefen Schlaf versunken und so wie sie da lag, erinnerte sie ihn an einen Teddybär. Er konnte nicht umhin, sie zu streicheln. Beim nächsten Mal wurde ein wenig mehr draus und dann war sie verschwunden.
In dem sauber verwalteten Leben des Klinik-Chefs fiel es ihm zuerst gar nicht auf, er ahnte aber nach zwei Wochen, dass etwas nicht stimmen konnte. Denn nach den Dienstplänen hätte das junge Mädchen wieder arbeiten müssen. Irgendwann traute er sich zu Fragen, traute ist wirklich das richtige Wort, wo denn das Mädchen abgeblieben ist. Dabei erfuhr er erstmals etwas über das Mädchen: sie hieß Emma, trug einen deutschen Familiennamen und stammte aus dem Elsass. Sie war, so die Auskunft, entlassen worden, weil sich herausstellte, dass sie keine guten Referenzen hatte. Chabot ahnte, dass dies nur ein Vorwand gewesen war. Vivianne, seine Sekretärin, war wieder einmal bemüht, Probleme, die auf ihn zukommen konnten, von ihm fernzuhalten.
Irgendwann las er in der Zeitung, dass eine junge Frau aus der Seine gezogen wurde, die Emma hieß und im fünften Monat schwanger war. Das war der Augenblick, wo es Chabot die Schuppen von den Augen fielen: Emma hatte nicht versucht, ihn anzubetteln, wenn sie in den vergangenen Monaten versuchte, Zugang zu ihm zu gelangen. Sie steckte tief im Schlamassel und er hatte sie in diesem gebracht. Chabots Entscheidungen hatte einem jungen Menschen das Leben gekostet.
Kurze Zeit darauf stellte sich ein junger Mann ein, der selbstverständlich nicht vorgelassen wurde (oder dies nicht wollte), und steckte hinter den Scheibenwischer von Chabots Wagen Zettel, auf denen der junge Mann deutlich machte, dass er, wenn sich die Gelegenheit bieten würde, Chabot umbringen würde. Ein Punkt mehr, der Chabot aus der gewohnten Ruhe bringt.
Der entscheidende Punkt, der Chabot zu einer Wende zwingt, ereignet sich im Kreissaal: er vergisst während der Geburt das Wort »Pressen«, kann der Frau auf dem Tisch nicht sagen, was sie zu tun hat. In diesem kleinen Augenblick, in dem die werdende Mutter Todesängste ausstand und sich das Personal fragte, was mit ihrem Chef los ist, fiel Chabot in ein tiefes Loch. Er hatte das Gefühlt, dass er alles vergessen hatte, was er jemals gelernt hat.
Eine interessante Stelle in dem Buch ist der Besuch Chabots bei seiner Mutter. Die Frau wohnte in Versailles und war die Frau eines Beamten, der eines Tages entlassen wurde und von dem Tag an, nur noch im Sessel saß, bevor er nach einigen Jahren starb. Die Mutter betrachtete den Aufstieg des Sohnes mit großem Misstrauen, nahm das Geld, dass der Sohn ihr schickte, nur sehr widerwillig an - andere Geschenke ließ sie überhaupt nicht zu. Die Wohnung des Sohnes betrat sie nicht mehr, die Einladung der Schwiegertochter schlug sie mit den Worten aus, sie würde nicht in die Wohnung passen. So hatten die Kinder keinen Kontakt mehr zu ihrer Oma und die Mutter Chabots suchte den Kontakt zu den Verwandten und Bekannten, die so geblieben waren, wie sie. Die Frau erinnert mich sehr an die Beschreibungen Simenons von seiner Mutter. Es sind viele Züge wiederzuerkennen - da würde sich auf jeden Fall die Lektüre von »Brief an meine Mutter« empfehlen.
Im Grunde genommen ist Chabot ein studierter Lecoin, wie der in »Der reiche Mann« beschrieben wird. Nur für die Arbeit lebend, wachte er in den besten Jahren auf und stellt fest, dass er das Glück noch nicht entdeckt hat. Kein Problem, irgendetwas zu kaufen, aber Liebe, Zuneigung und Zusammengehörigkeitsgefühl lässt sich nicht im Supermarkt erwerben. Das ist der Grund, warum sowohl Chabot und Lecoin zu scheitern drohen - ist die Schale erst einmal aufgebrochen, ist man sehr verletzlich. Ist man das nicht gewohnt, geht man unter.