Über die Story
Für Justin Calmar war der Urlaub in diesem Jahr ein eher zu Ende. Die Arbeit rief ihn zurück nach Paris. So ließ er Frau und Kinder in der Pension in Venedig, wo sie Urlaub gemacht hatten, zurück und begab sich in den Alltag zurück. Als er in Venedig in den Zug stieg, hatte er noch keine Ahnung, was für Abenteuer, welche Möglichkeiten vor ihm lagen. Er verabschiedete sich von seinen Lieben (wobei die Kleinen die Abfahrt kaum erwarten konnten, so schnell wollten sie zurück ans Wasser) und sein Abenteuer begann, auch wenn nicht so fahrplanmäßig, wie man es sich wünschte.
Zwei Männer in einem Abteil: der eine etwas dicklich, verlegen aus dem Fenster schauend, ein Mann, an dem die italienische Urlaubssonne keinerlei Spuren hinterlassen hat. Der andere wirkte souverän, war sehr weltgewannt, ein guter Beobachter und schien etwas von Calmar zu wollen. Calmar war der erste. Es war ihm unangenehm. Man kennt das aus der Bahn: man sitzt mit jemandem zusammen, der Anstalten macht, sich mit einem zu unterhalten, während man einem Gespräch ablehnend gegenübersteht, dem Gegenüber vielleicht auch, und möchte so tun, als ob man schläft. Calmar hatte sicher das Gefühl gehabt, dass sein Gegenüber diesen Schachzug erkennen würde und er sich damit lächerlich machen würde. Das Gespräch begann, Calmar gab sich auf. Er konnte sich nur wundern, wie gut informiert der Mann man. Aus wenigen Gesten, aus wenigen Worten, hatte er Sachverhalte konstruiert, die hunderprozentig wahr waren. Calmar, einem einfachen Angestellten, kam es so vor, als hätte ihn der Mann längere Zeit studiert, obwohl sie nur wenig Zeit miteinander verbracht hatten.
Der Fremde kannte die Strecke. Er wusste, dass auf dieser Fahrt, die nach Lausanne führte, noch einige Stationen lagen, an denen einige Leute einsteigen würden. Viel Zeit hatte er nicht, weshalb er auch nicht viel »rumeiert«, und Justin Calmar um einen Gefallen bittet: er hätte leider nicht die Zeit und die Gelegenheit, sich länger in Lausanne aufzuhalten, und da er wüsste, dass Calmar zum Umsteigen nach Paris einige Zeit bleiben würde, täte er ihm einen großen Gefallen damit, wenn er aus einem Schließfach am Bahnhof von Lausanne einen Koffer abholen würde und diesen einer gewissen Arlette Staub bringen würde.
Calmar überlegt hin und her, findet aber kein passendes Argument, um dem Fremden diesen Gefallen abzuschlagen. Dieser zeigt sich auch mehr als generös und erstattet Calmar die Unkosten, die ihm durch diesen Umweg entstehen würden (Taxi). Sie fuhren durch einen Tunnel, als der Fremde verschwand.
Das Verschwinden des Mannes bereitete Calmar Kopfzerbrechen. Sein Dilemma war, dass er nun noch weniger wusste, woran er war, als im Zug, als er neben dem Herren gesessen, mit ihm geredet hatte. Nun, er hatte das Geld angenommen und besaß den Schlüssel zu dem Schließfach. Es wäre nicht recht, dachte sich Calmar, wenn er den Auftrag, den man ihm erteilt hat, nicht ausführen würde. So holte er den Koffer, schnappte sich ein Taxi und machte sich auf den Weg zu Arlette Straub. Auf sein Klingeln reagierte sie nicht. Der stieß gegen die Tür, und sie öffnete sich. Mit Hallo-Rufen machte er sich auf den Weg durch die Wohnung, in der Hoffnung, dass die Empfängerin des Koffers, das Klingeln nicht gehört hatte.
Diese Hoffnung erfüllte sich, allerdings nicht in der Art und Weise, wie sich das der Pariser vorgestellt hatte: er fand Arlette Straub tot vor und irgendwas sagte ihm, dass dieser Tod kein natürlicher gewesen war. Nun befand sich Calmar in der ähnlichen Situation wie der Neu-Kofferbesitzer Maloin in »Der Mann aus London«. Er hatte einen Koffer und fand es unangemessen, die Polizei zu rufen, um den Mord zu melden. Was hätte er ihr erklären wollen, wo er gar nicht wusste, in was für einer Geschichte er gerade mitspielte. Er kannte weder den Mann, der ihm den Schlüssel zum Koffer gab, er wusste nicht einmal, was sich in dem Koffer befand und eine Beziehung zu Arlette Straub, die er hätte erklären können, hatte er auch nicht.
So packte er sich den Koffer und all seine Sinne, lief nach unten und ließ sich vom Taxifahrer zum Bahnhof bringen. Die Stunden bis zur Abfahrt seines Zuges verbrachte er mit dem hektischen Beobachten des Bahnsteiges: er sah jeden Moment einen Polizisten um die Ecke kommen, der nur eines wollte: ihn, Justin Calmar, verhaften. Aber er übersteht die Zeit, schafft es durch die Grenzkontrollen bis nach Hause, wo seine Sorgen erst richtig anfangen sollte.
Ihn interessierte natürlich, was in dem Koffer war, den er von der Schweiz mit nach Hause gebracht hatte. Hatte der Inhalt etwas mit Arlette Straubs tot zu tun? Es war ein gewöhnlicher Aktenkoffer, allerdings ein abgeschlossener. Mit ein wenig Werkzeug ließ sich dieses Problem beheben und Justin Calmar, kleiner Angestellter in Paris, stand vor einem Haufen Geld – Dollar und Francs – und fragte sich, was diese Summe in Francs wäre. Er kommt sich vor, wie ein reicher Mann.
Kurz darauf zogen sich aber die Sorgenfalten auf seiner Stirn wieder kraus. Zwei Probleme drängten sich ihm auf: zum einen war da die Ermittlung in Lausanne, die er mit großer Sorge betrachtete. Schließlich hatte ihn der Taxifahrer zu der Adresse gefahren und auch wieder zum Bahnhof gebracht. Vielleicht hatten sie diesen Mann gefunden, dann hätten sie auch eine ziemlich genaue Beschreibung seiner Person. Zum Anderen, eine noch akutere Sorge: war das Geld echt und wenn ja, wohin damit. Bei der Inspektion seiner Wohnung gelangte er zu der Gewissheit, dass er seit Jahren in einem Käfig lebt. Alles was er tat, wurde beobachtet, zur Kenntnis genommen. Er hatte keinen Platz in seiner Wohnung, wo er hätte etwas verstecken können. Ihm blieb nichts anderes übrig, als Pläne zu schmieden, um seinen Reichtum vor der Familie zu verstecken. Um sie zu schützen, das versteht sich.
Ziemlich lang fragt man sich, was wohl Justin Calmar passieren wird. Dann kommt plötzlich ein Dreh und man kann sich als Leser entspannen. Calmar erfährt, dass ein Mann verhaftet wurde, der verdächtigt wurde, Arlette Straub umgebracht zu haben. Diese Erleichterung kommt einem erlösendem Ausatmen gleich. Aber was kommt denn jetzt noch? Es ist die Phase, in der Calmar einen Weg gefunden hat, gewisse Extravaganzen seiner Familie und seinen Freunden zu erklären. Nur ein argloser Simenon-Leser (ein Neuling vielleicht) würde auf die Idee kommen, dass die Familie Calmar jetzt den plötzlich Reichtum genießen könnte und das sie bis zum Ende ihrer Tage glücklich miteinander leben könnten. Der Simenon-Kenner zuckt wissend mit den Schultern, lehnt sich zurück und erwartet den Angriff des Schicksals auf Calmar.
Wie schon erwähnt, Simenon meint es nicht gut mit Koffer-Findern.