Über die Story
Das Unglück passiert auf den ersten Seiten. Wie in dem Roman »Die Komplizen« ist es ein Autounfall, der das Leben von einigen Menschen verändern soll. Am Steuer des Wagens saß Jules Guérec und er war, während er durch Concarneau fuhr, mit seinen Gedanken nicht beim Straßenverkehr. Was heißt Straßenverkehr? Der Verkehr dürfte in dem Hafenstädtchen nicht sehr unübersichtlich gewesen sein, es reichte aber aus, dass ein kleiner Junge die Straße betrat und der wohlhabende Mann es einfach übersah.
Jules fuhr nicht zurück, um zu schauen, wie es dem Opfer ging (auch hier eine Parallele zu dem schon angeführten Komplizen-Roman), kehrte vielmehr um und fuhr die Strecke, unauffällig zurück. An einer Kneipe, die sich zwischen Quimper und Concarneau befand, machte er halt und trank ein Gläschen. Auf die Frage, ob er aus Quimper käme, antwortete er vernehmlich mit einem »Ja«. Somit war für Jules die Frage des Alibis geklärt.
Die Leute aus dem Ort, die Polizisten eingeschlossen, ließen sich wahrscheinlich problemlos hinter das Licht führen. Ein ganz anderes Kaliber war da Jules Schwester Céline, die Jules von Kindesbeinen an kannte, die erste Instanz zum Beichten, bevor es in die Kirche ging. Sie wusste ganz genau, wenn ihr Bruder etwas ausgefressen hatte. An diesem Tag waren es gleich zwei Dinge, die dem Bruder schwer im Magen lagen. Zum Einen, es war die Lappalie geworden, hatte er sich in Quimper mit einer käuflichen Frau vergnügt und hatte Rechenschaft über den fehlenden Betrag in der Brieftasche abzulegen. Er hatte sich dazu ausgedacht, dass er in einem Café seine Brieftasche vergessen hatte. Nicht sehr glaubwürdig, aber er hatte seine Brieftasche versteckt und rief in einem Café in Quimper an, um nach seiner Brieftasche zu fragen. Über das fehlende Geld hatte sich Jules Guérec seine Gedanken gemacht, als er den Jungen überfuhr. Da er nun ein Alibi hatte, versteckte er einfach das Auto in der Garage und hoffte, dass die Leute vergessen würden, dass die Guérecs ein Auto hätten.
Mit heutigen Maßstäben gemessen, war Jules Guérec nicht von dieser Welt. Der Mann war über dreißig und lebte mit seinen Schwestern zusammen. Die eine Schwester - Françoise - bekochte und pflegte ihn; die jüngste Schwester Céline - immer noch älter als er - sorgte sich um das Geschäft und war de facto das, was man den Haushaltsvorstand nennt. Die mittlere Schwester, Marthe, hatte sich aus dem gemeinsamen Haushalt abgesetzt und geheiratet (was nicht zu erwarten gewesen war). Céline war es beispielsweise, die dafür sorgte, dass ihr Bruder nicht Vater wurde. Der hatte sich in ein Mädel verschaut und sie prompt geschwängert. Mit dem Guérecschen Nachdruck und Geld in der Hand, sorgte Céline dafür, dass das Mädel keine Lust hatte, Guérecsche Nachkommen in die Welt zu setzen. Auf See, wenn er als Kapitän sein Fischereiboot steuerte und seine Mitarbeiter zu lenken hatte, war Jules Guérec ein Ass. An Land hatte der Mann nichts zu vermelden.
Den Unfall betrachtete er auch als Chance. Der Junge sollte den Unfall nicht überleben. Es handelte sich bei dem Opfer um Joseph Papin. Jules ging zur Beerdigung und fing an, um das Haus der Papins herumzuschleichen. Bald bekam er heraus, dass es sich bei der Mutter um eine alleinstehende Frau handelte, die mit dem Bruder von Joseph zurückblieb. Mit zur Familie gehörte noch ein junger Mann, ein wenig zurückgeblieben, der sich als Bruder von Marie Papin herausstellte. Über diesen bekam Jules Zugang zu der Familie. Er »freundet« sich mit dem jungen Mann an, und bietet ihm an, ihm bei Aufarbeitung seines Schiffes zu helfen. Nicht nur Marie Papin ist verwundert: Ihr Bruder war berüchtigt dafür, dass er nichts richtig konnte. Bei Céline indes klingelten die Alarmglocken.
Ihr Bruder wollte sich ihr nicht anvertrauen, sagte nicht, was er vorhatte. Statt dessen verbrachte er seine Zeit in der Küche von Marie Papin, brachte dem nachgebliebenen Sohn Geschenke mit, der Mutter hin und wieder Lebensmittel. Liebesgeschenke? Vielleicht. Man ist geneigt, zu denken, dass Jules sich daran machte, seine Schuld zu begleichen. Den Mut, sich der Gerichtsbarkeit zu stellen, hatte er nicht. Der Weg, den er nahm, erkannte er nicht als falsch. Er machte aus seiner Schuld und seinen Schuldgefühlen Liebe.
Marie Papin war das ziemlich egal. Sie hatte keine Ahnung, ob sie das Schlimmste schon hinter sich hatte oder noch vor sich. Was dieser Mann in ihrer Küche wollte, war ihr ein komplettes Rätsel. Von Liebe keine Spur, sie sah auch keine Chance, ihrer Welt zu entkommen. Er stand ihr im Weg. Vielleicht hatte sie das Gefühl, der Mann wollte sie als Mätresse. Sie war schließlich keine Schönheit. Sie hatte zwei Kinder unehelich zur Welt gebracht. Welcher Mann aus guter Familie sollte sich für sie interessieren. Eine nüchterne Einschätzung der wahren Verhältnisse. Was Jules irritierte, und mit ihm natürlich auch den Leser, ist die Gleichgültigkeit der Frau. Sie lässt alles über sich ergehen.
Das merkwürdige Verhalten ihres Bruders war Céline kein Rätsel mehr und sie hatte ihre eigenen Untersuchungen angestellt. Jules mochte es nicht wahr haben wollen, aber seine Schwester kannte ihn besser als dies jemals irgendeine Ehefrau könnte. So machte sich die Jüngste der Schwestern ihre eigenen Sorgen. Die betrafen zum einen die Reputation der Familie Guérec. Längst hatte sie durchschaut, warum ihr Bruder Marie Papin hinterherlief und deren Bruder, wider besseren Wissens, beschäftigte. In ihren Augen war die Schuld keine Rechtfertigung für eine mögliche Eheschließung. Ein Guérec heiratet nicht unter seinem Stand. Céline war es auch, die das Geld der Familie zusammenhielt. Schon einmal hatte sie gezahlt, um das Geld der Familie vor fremden Zugriff zu schützen. Sie würde es noch einmal tun.
Das Buch lebt von dem Konflikt zwischen Schwester und Bruder. Der Bruder, dessen Leben letztlich von Céline gelenkt wurde, versuchte sich zu befreien. Die Schwester setzt alles dagegen. Ob man mit dem Adjektiv »böse« allerdings die Schwestern richtig beschreibt, will ich bezweifeln. Françoise war für die Küche verantwortlich, Marthe kümmerte hatte ihre eigene Familie und Céline war wie eine Glucke, die versuchte, die Familie zu beschützen. Böse und hinterhältig ist eher das Verhalten von Jules Guérec, der nicht zu seiner Schuld steht.