Über die Story
Étienne Lomel war 24 Jahre alt. Seine Erfahrungen mit Frauen waren äußerst beschränkt oder überhaupt nicht vorhanden. Immerhin hatte er eine gute Arbeitsstelle gefunden. Lomel arbeitete als Vertreter für eine Papierwarenvertretung im Raum Paris. Seinen Tag verbrachte er damit von Papierwarengeschäft zu Papierwarengeschäft zu marschieren, und dort die Produkte seiner Firma anzupreisen. Zu seiner Klientel gehörten auch Druckereien und andere papierverarbeitende Betriebe, aber sein Schicksal sollte ein Papierwarengeschäft bestimmen. Er trat eines Tages in den Papierwarenladen »Évariste Birard« und verlangte den Chef zu sprechen. Der Chef war eine Chefin und Louise Gatin behandelte ihn vom ersten Tag an sehr zuvorkommend. Es dauerte nicht sehr lang, da gehörte dieses Papierwarenschäft zum bevorzugten Kundenkreis von Étienne Lomel, und Lomel wurde für einen Vertreter ausgesprochen gut behandelt: nicht jeder wurde Geliebter der Chefin.
Lomel konnte wahrscheinlich gar nicht mehr atmen vor Glück und setzte alle Hebel in Bewegung, um Louise nah zu sein. Eine Wohnung, ein Zimmer besser gesagt, war ein erster Anfang. Bald kam man in den Gesprächen auf das Thema Liebe, auf Hochzeit - Lomel war sehr naiv, machte sich keine Gedanken. Immerhin war Louise verheiratet und katholisch. Wie wollte sie das Problem lösen?
Der junge Mann verschwendete kein Gedanken daran, es war Louises Thema und sie löste es bravourös. Bald nachdem sie ihm das Versprechen abgenommen hat, dass er sie heiraten würde, wurde ihr Mann bettlägerig und verstarb kurze Zeit später. Gibt es solche Zufälle? Lomel steht nicht der Sinn danach, darüber nachzudenken. Er war ganz in seiner Liebe zu Louise gefangen. Das Paar reiste nach dem Tod des Mannes nach Nizza, um dort die Ferien zu genießen und das erste Mal ohne Hektik Zeit miteinander verbringen zu können. Louise beschließt, dass er bei ihr einziehen würde und dass sie ihn nach Ablauf der Frist (zehn Monate) heiraten würde. Gesagt, getan. Man vereinbart Gütertrennung, das Geschäft bleibt in den Händen von Louise, die jetzt ein Lomel ist.
Wann kommen Étienne Lomel das erste Mal Bedenken? Vielleicht als er hört, wie die Concierge erzählt:
Als er tot war, war er so abgemagert, dass die Männer, die ihn in den Sarg legten, mir erzählten, dass er nicht mehr wog als ein zehnjähriges Kind.
Schalten wir unseren gesunden Menschenverstand ein: wer, bitte schön, nimmt es einfach so hin, dass eine Frau in der Beseitigung ihres Ehemannes kein Problem sieht? Louise war katholisch und eine Scheidung konnte für sie keine Lösung sein. Am Eigentum konnte es nicht liegen, sicher hatte sie auch mit ihrem ersten Mann Gütertrennung vereinbart. Sie konnte also wirklich nur der Meinung sein, sie könnte eine Scheidung vor Gott oder der Kirche nicht vertreten. Aber was ist das für ein Denkansatz? Scheidung auf keine Fall, das ist Sünde; während der Ehebruch und der anschließende Mord an ihrem Mann keinerlei moralische oder religiöse Bedenken verursacht? Salopp gesagt, tickt etwas in der Frau nicht richtig? Um Lomel ist es nicht besser bestellt - der Mann verstirbt ganz plötzlich, nachdem er, Lomel, Louise die Heirat versprochen hat. Was für eine glückliche Fügung!
In meinen Augen hat Lomel nichts anderes verdient als Furcht. Er sollte sich jeden Tag fürchten, dass seine Frau seiner überdrüssig wird und ihn, genauso wie den ersten Mann, vergiftet. Simenon lässt Gerechtigkeit walten. Fünfzehn Jahre später ist es soweit.
Lomel fühlt sich von einem Tag auf den anderen sehr unwohl. Anfälle nahen, keiner hat für diese eine Erklärung. Eine erste Erklärung ist sein Rauchen: er hört von einem Tag auf den anderen auf. Die Wirkung ist für ihn erstaunlich. Mehr Appetit und er nimmt auch etwas zu. Aber gegen die Anfälle, die ihn plagen, ist die Nichtraucherexistenz kein Mittel. Lomel sucht einen Arzt nach dem anderen auf, keiner vermag ihm zu helfen.
Eines weiß Lomel: er wird vergiftet. Nun holt er nicht zum Gegenschlag aus, wie Simenon es in »Sonntag« beschrieb, sondern erduldet sein Schicksal. Mit dem Zeitpunkt der Gewissheit, dass Louise ihn vergiften will, ergreift er leichte Gegenmaßnahmen. Er traut ihren Kochkünsten nichts mehr, erbricht das Essen, dass sie ihm kocht. So kommt er über die Runden. Aber die Motivation Louises hat er noch nicht erkannt. Dieses Erkennen lässt ihn aus dem Kreislauf ausbrechen, den er bis dahin gelebt hat. Er macht sich auf die Suche und wird auch fündig.
Liest man gewöhnlich ein Buch, in dem das Leben eines potenziellen Opfers geschildert wird, dann hat man Mitleid. Merkwürdigerweise habe ich für Lomel kein Mitleid. Er hält alle Fäden in der Hand und ist viel besser dran als der erste Ehemann von Louise, der von den dunklen Charakterzügen seiner Frau nichts geahnt haben dürfte und sich seiner Krankheit ergeben hat. Wenn jemand die Möglichkeit hat, auszubrechen, dann Étienne Lomel. Aber das tut er nicht. Selber schuld. Da ist man fast versucht zu sagen, wenn so ein großen Teil der Schuld Lomel trifft, warum dann Louise Lomel die Schuld zu schieben. Ihr Mann weiß schließlich, was und wen er geheiratet hat.
Trotzdem wird man in eine beklemmende Atmosphäre als Leser geschickt. Wieder erlebt man eine Beziehung zwischen Mann und Frau, die mörderischen Charakter hat und hofft das Beste für die eigene Beziehung. Die Geschichte ist sehr lesenswert und ich habe mich gefragt, warum ich das Buch vor einigen Jahren nach wenigen Seiten beiseite gelegt habe. Das geschah nach wenigen Seiten und ich habe jetzt eine Erklärung dafür gefunden. Nicht der Inhalt machte es für mich unattraktiv, der Umschlag der Diogenes-Ausgabe war es. Dieser Saal auf dem Cover, der in ein Schloss gehört, mag ganz schön sein, wenn man eine Schlossbesichtigung absolviert oder in einem Kunstband blättert, er hat keinen Bezug zum Inhalt des Buches, ruft keine Spannung hervor und verleitete mich nach wenigen Seiten zur Ansicht, dass in diesem Roman nichts zu erwarten sei. So kann man getäuscht werden. Aber es ist besser, vom Cover enttäuscht zu werden als vom Inhalt.