Über die Story
Mein Dank für die Entdeckung der Welt der Non-Maigrets geht nicht an Diogenes (sorry!), sondern an Bertelsmann. Dort wurde vor einer halben Ewigkeit (um genau zu sein - 1991) ein Band in der Jahrhundert-Edition herausgebracht. Vorher hatte ich mal »Die Witwe Couderc« gelesen, aber die Erinnerungen daran waren verblasst, später hatte ich mich an »Der Mann aus London« versucht, aber keinen Zugang zu dem Titel bekommen. Dann kam dieses Buch. Sogar heute noch kann ich ziemlich genau sagen, in welcher Zeit ich dieses Buch gelesen habe: Sommer 1994. Ich hatte im Februar mit dem Zivildienst begonnen und wurde für zwei alte Menschen eingeteilt. Da war zum einen eine alte Dame, alleinlebende Lehrerin, die etwa Mitte achtzig war. Sie konnte kratzbürstig sein, zu mir war sie allerdings herzallerliebst. Drei- bis viermal am Tag sahen wir uns. Die Rehabilitation hatte sie bereits hinter sich; das Resultat war, dass sie zu Hause leben konnte. Ihren Sessel oder ihr Bett allerdings nicht ohne fremde Hilfe verlassen. Die Hilfe, die sie benötigte, wurde ihr fünfmal am Tag zur Verfügung gestellt - gewiss ausreichend, um die Pflege zu gewährleisten. Zeit für Gespräche, die für die alte Dame ein Lebenselexier waren, kamen dabei in jedem Fall zu kurz. Klienten nannte man die »Kundschaft«. Das galt für die alte Dame, wie auch für den Doktor, den ich betreuen durfte. Der Mann wurde sprichwörtlich vom Schlag gefällt. Sein ganzes Leben aktiv, bis ins hohe Alter immer beschäftigt, lag er nun - von der Rehabilitation zurückgekehrt - im Bett oder saß im Rollstuhl. Es war ihm gänzlich unmöglich, sich mit dieser Situation abzufinden. Da hilft selbst die beste Betreuung von Familie und Pflegedienst nichts, der Mann konnte nichts mehr machen und verfiel.
In diese Situation als junger Mensch hineingeworfen, war mir das Buch eine Hilfe. Simenon hat, ohne selbst bisher davon betroffen zu sein, ein sehr realistisches Bild von dieser Krankheit und den damit verbundenen Schicksalsschlag gezeichnet.
Eines muss ich sagen: René Maugras hat mehr Glück gehabt, als die beiden älteren Leute, die ich zu betreuen hatte. Ihn erwischte es im Alter von vierundfünfzig Jahren und damit hatte er eine realistische Chance auf ein »Comeback« im Alltag. Danach sieht es am Anfang gar nicht aus. Es beginnt am 3. Februar. Von einem Moment zum anderen lebt der erfolgreiche Herausgeber einer Pariser Zeitung in einer anderen Welt. Maugras kann nicht mehr über die gesellschaftlichen Ereignisse der Stadt berichteten. Die Möglichkeit, sich zu bewegen, ist ihm genommen. Kommunikation mit seinen Mitmenschen ist nicht möglich: er bringt keinen Ton heraus.
Stellen Sie sich einen Mann vor, der gewohnt ist, Entscheidungen zu treffen, diese durchzusetzen. Jemand, der Menschen mit seinen Zeilen setzen in den Himmel loben kann oder mit herablassenden Wörtern Spott und Schande über die Menschen ausschütten kann. Dessen Waffe das Wort war, eine Waffe, die Maugras sowohl in schriftlicher wie mündlicher Form gesetzt hat. Dieser mächtige Mann, geschätzt und gefürchtet, lag jetzt bewegungslos im Bett, brachte kein Ton heraus und muss zuhören, wie mit ihm manchmal in einem babyhaften Ton gesprochen wurde.
Mit seinem Einfluss war er selbstverständlich privilegiert: die Masse der Leute lag in einem riesigen Saal, wo man einer unter vielen Kranken war, in dem es alltäglich war, dass manche Bereiche mit einem Vorhang abgeteilt wurden und kurze Zeit die Krankenbetten verschwanden. Maugras dagegen wurde von seinem Freund und dem Chefarzt der Klinik behandelt, hatte sein eigenes Zimmer und wurde von Privat-Schwestern betreut.
Aber war das wirklich eine Erleichterung? Sein Freund ist bemüht ihn zu beruhigen. Ein aussichtsloses Unterfangen, denn Maugras weiß, was ihm passiert ist. Er kennt die Schicksale von Bekannten, die entweder einen Schlaganfall erlitten haben oder an einem Gehirntumor starben. Insgeheim gibt er seinem Arzt und Freund recht, denn was ihm gesagt wird, ist sicher richtig. Misstrauisch, wie ein Journalist sein muss, vermutet er aber, dass alles nur gesagt wird, um ihn zu beruhigen.
Ich kann mir nicht viel Unspektakuläreres als die Beschreibung einer Krankheit aus der Sicht des Betroffenen vorstellen - es passiert nichts. Der Zeitungsherausgeber liegt in seinem Zimmer und lässt alles über sich ergehen: die ersten Bewegungen, die ersten Worte, die ersten Schritte. Es läuft alles sehr zäh, nur langsam kommt auch die Energie in den Mann zurückrückt. Simenon erfindet (zumindest für sich gesehen) das Rad nicht neu. Er arbeitet mit einem bewährten Element: dem Rückblick. Wenn Maugras für etwas Zeit hat, dann ist es nachdenken. Der Leser darf den Gedankengängen des Mannes folgen: die Armseligkeit der Kindheit in Fécamp, die Flucht nach Paris und der Aufstieg des Redakteur. Dem beruflichen Erfolg steht ein privates Leben gegenüber, welches durch Niederlagen gezeichnet ist und von dem Maugras selbst zum Zeitpunkt seiner Krankheit nicht sagen kann, ob er nun glücklich ist oder nicht, ob er seine Frau liebt. Bei diesen Reisen durch die Vergangenheit lernt der Leser auch die Freunde kennen. Für sie gilt das Gleiche, wie für den Kranken. Viel Schein und wenig Sein, so könnte man es zusammenfassen.
Der Leser bekommt zweierlei geboten: zum einen wird das Leben eines erfolgreichen und mächtigen Mannes erzählt; zum anderen wird das Bild einer Krankheit auf sehr realistische und eindrückliche Weise gezeichnet. Diese Schilderung ist so eindrucksvoll, dass die Ärzte, die Simenon in »Simenon auf der Couch« interviewen, auf dieses Werk immer wieder zurück kommen. Man hat den Eindruck, dass sie vom Realismus des Werkes - sowohl was die Schilderung der Krankheit wie auch des Krankenhausbetriebes -, geschildert von einem Außenstehenden, sehr beeindruckt hat. »Die Glocken von Bicêtre« steht für mich auf der Liste der Bücher, die man unbedingt gelesen haben muss.