Über die Story
Ein Roman, der in Muße geschrieben wurde. So urteilte Simenon über diesen Roman und verband das mit der Hoffnung, dass die Kritiker ihn an diesem Roman messen würden und nicht an dem, was er vorher »produziert« hatte. Eines vorneweg: Es ist wie Tucholsky sagte, dass in den Romanen von Simenon eigentlich nicht viel passiert. Trotzdem kann man sie nicht weglegen, muss weiterlesen. »Die Marie vom Hafen« fällt in diese Kategorie.
Das Leben spielt sich in Bistros ab, gemächlich. Einer kommt herein, klönt ein bisschen mit den Anwesenden. Irgendwann verlässt jemand die Runde, es kommen aber zwei, drei andere hinzu und berichten, was sie gerade draußen erlebt haben. Nichtigkeiten meist, aber Nichtigkeiten, die die Leute beschäftigen. So ein Roman ist das.
Der Tod
Port-en-Bessin, ein kleiner Ort an der Küste in der Normandie. Gerade war der Vater von Marie Le Flem war gestorben, die Mutter hatten sie ein paar Jahre zuvor verloren. Fünf Geschwister waren sie: Die große Schwester Odile lebte nicht mehr in dem Ort und war die Geliebte eines Café- und Kino-Betreibers in Cherbourg. Die drei Jüngeren hatten bei weitem noch nicht die Reife, wie sie Marie besaß.
Es war klar, dass man Marie nicht die Obhut für die kleineren Geschwister übertrug und Odile hatte daran kein Interesse. So wurden sie in die Familien von Onkeln und Tanten gegeben, wobei die Zuteilung nicht nach Zuneigung und Liebe erfolgte, sondern wie gut die »Kleinen« schon auf dem Hof mithelfen konnten.
Marie mochte man irgendwie, auch wenn sie in dem Ruf stand, unnahbar zu sein, eine Geheimniskrämerin. Man sammelte für sie und das ganze Dorf war auf den Beinen, als Maries Vater, der alte Jules, zu Grabe getragen wurde. Man zerriss sich das Maul über die ältere Schwester Maries, Odile, die mit ihrem Liebhaber aus Cherbourg gekommen war.
Die Anmaßung
Am Tag der Beerdigung wurde ein Schiff versteigert. Die »Jeanne« vom alten Viau, der noch gar nicht so alt war, aber auf den Namen Marcel hörte, genau wie sein Sohn, der schon mal mit der Marie vom alten Jules hinter dem alten Zollhäuschen rumgeknutscht hatte (und sich nun sonst was darauf einbildete). Die »Jeanne« war ein ordentliches Schiff, nur ein Mast war gebrochen und musste repariert werden. Viau hatte kein Geld, um es reparieren zu lassen, denn er hatte eine stattliche Anzahl von Rückschlägen in der letzten Zeit hinnehmen müssen. Dem Fischer brach es das Herz, ansehen zu müssen, wie sein Kutter versteigert wird.
Aber es gab noch ein Problem: Dem Schiff haftete ein Ruch von Unglück an. Die Leute zögerten, das Schiff zu übernehmen. Nicht dass der Fluch auf sie übersprang. Bis auf einen: Henri Chatelard - der Liebhaber von Odile.
Nie würde er es sagen, aber während seiner Aufenthalte in Port-en-Bessin hatte er sich in keine Geringe als in Marie verliebt. Will man eine problematische Beziehungen beginnen, ist das schon ein sehr gute Voraussetzung. Chatelard will natürlich nicht zugeben, dass er Marie hinterher rennt. Er hätte es nie eingestehen können, denn das verstieß ganz und gar gegen sein Selbstverständnis. Zumal sein Erfolg bei Marie in Punkten angegeben bei »0« stand und die junge Frau überhaupt keine Anstalten machte, dem Werben des Mannes aus der großen Stadt nachzugeben, ihm beharrlich die kalte Schulter zeigte und das höchste ihrer Gefühle war, dass sie sich über ihn lustig machte. Nicht gerade das, was ihm vorschwebte und es kratzte gehörig am Ego des erfolgreichen Geschäftsmannes.
Odile war dagegen ist ein faules Mädchen, dass sich in der Beziehung mit dem Chatelard gut eingerichtet hat. Er hielt nicht viel von ihr? Kein Problem für sie. Er nahm sie nicht ernst? Für Odile überhaupt gar kein Grund zur Besorgnis. Auch seine ständigen Besuche in Port-en-Bessin und das Gerede über ihre Schwester ließen sie lange Zeit kalt. Es war halt so und so, wie es war, war es nicht schlecht. Es war bequem.
Zwischen den Fronten
Da konnte der Chatelard Tag für Tag von Cherbourg nach Port-en-Bessin kommen und sein Schiff besteigen, was er neu herrichten und im Anschluss den großen Seemann im »Café de la Marine« heraushängen lässt, dem Bistro, in dem Marie seit dem Tod ihres Vaters arbeitet. Marie gab sich unnahbar. Der Mann scheint geduldig, spielt mit dem Mädchen und merkt gar nicht, wie er immer mehr Spielball von Marie wird. Sie gibt ihm zu verstehen, dass er sie nicht zu duzen hat, dass er sie nicht anzufassen hat, dass sie seine Vertraulichkeiten nicht mochte. Sie hält Chatelard geschickt auf Distanz: Sie verbittet es sich, von ihm geduzt zu werden; weist ihn auf ungehöriges Verhalten hin und reizt ihn durch Nichtbeachtung.
So darf sich der zukünftige große Held fragen, was es mit dem Viau jr. auf sich hat, der eines Abends im Bistro auftaucht. Viau verlangt, dass Marie mit ihm spricht. Er macht eine Szene, da sie überhaupt gar nicht daran denkt, mit ihm über irgendetwas zu sprechen. Statt dessen gibt es eine weitere Demütigung für den jungen Mann: Sein Vater, der alte Viau, glaubte seinen Augen nicht zu trauen, den Sohn in der Kneipe zu sehen und bittet, nein, befiehlt ihm, umgehend zu verschwinden. Der Junior denkt gar nicht daran: Er müsse erst mit Marie sprechen. Dieses Duell geht mit 2:0 an den Vater, denn zum einen hat er bewiesen, dass er mit seinen Seemannskräften immer noch in der Lage ist, seinen Sohn auf die Straße zu befördern, auf der dann Marcel auch wie ein begossener Pudel liegt, und zum anderen, gab es noch Extra-Punkte von den Stammgästen, die dieses Spektakel mit großem Interesse verfolgten.
Chatelard wurde durch die Szene nicht klüger: Er weiß nicht, ob der gute Junge nun der Geliebte seiner Angebeteten ist, und darf noch mehr Zweifeln, als Marie kurze Zeit später im Dunkeln verschwindet.
Eintauchen
Jedes Mal, wenn ich das Buch zur Hand nehme, bin ich begeistert. Erst einmal sind es die Schilderungen Simenons von der Umgebung, den Menschen, der Atmosphäre – die einen unmittelbar in den Bann ziehen. Es sind Kleinigkeiten, mit denen er den Seelenzustand seiner Figuren beschreibt: die Verzweiflung, die Hingabe, die Trauer. Dazu lässt er den Leser unklar, was Marie fühlt und denkt. Wir als Leser wissen nur, dass sie sich schon etwas denkt und nichts Unbedachtes tut. Sie erledigt ihre Aufgaben zur Zufriedenheit aller, aber ohne Enthusiasmus und stellt damit einen Kontrast dar, zu den leidenschaftlichen Männern – Chatelard und Viau Junior – und auch zu ihrer immer plappernden Schwester Odile.
Hinzu kommt noch eine Portion Spannung, denn in Port-en-Bessin geht es recht ruppig zu und man darf sich in der Zwischenzeit auch fragen, was Marcel Viau Junior, so umtreibt, nachdem er von seinem Vater gedemütigt wurde und der Streit auch zu Hause noch fortgesetzt wurde.
In der jüngsten Ausgabe des Titels gibt es noch ein Nachwort von Christian Seiler, in dem er anrührend beschreibt, wie ihn sein Freund Jakob Arjouni eines Nachts anrief, und ihm von dieser Simenon-Geschichte vorschwärmte. Arjouni war zu der Zeit schon schwer erkrankt und mochte sich nur noch mit Texten beschäftigen, die ihm am Herzen lagen. Simenon war ein favorisierter Autor, den er in der Zeit viel und gern las, und die Geschichte um Marie hatte es ihm – völlig verständlich – sehr angetan.