Über die Story
Bei bestimmten Büchern weiß man anhand des Titels schon, was sich vermutlich ereignen wird, andere geben einem nur vage Hinweise – Bücher wie der »Das blaue Zimmer« oder »Die grünen Fensterläden« helfen dem Leser nicht weiter. Was man sich unter einem Roman um Gerettete eines Schiffes vorstellen mag, ist von Mensch zu Mensch sicher unterschiedlich. Das, was ich zu lesen bekam, hatte ich mir darunter nicht vorgestellt.
Der Roman braucht keine lange Aufwärmphase, er beginnt mit einem Paukenschlag. Der Kutter »Zentaur« läuft an einem Tag im Februar in den Hafen von Fécamp ein. Die Anwohner und regelmäßigen Kaibesucher haben schon gemerkt, dass an diesem Tag etwas anders ist, als an den anderen Tagen. Unbekannte Männer, die eindeutig keine Touristen waren, wimmelten am Kai herum und betrachten aufmerksam die Ankunft des Kutters. Sie lassen nicht zu, dass der Kapitän sein Schiff verlässt und verbringen ihn in die Kabine. Er wird geraume Zeit verhört, und als er die Kabine verlässt, wird der Mannschaft mitgeteilt, dass ihr Kapitän Pierre Canut nicht die nächste Ausfahrt – die für den kommenden Tag vorgesehen war – befehligen würde. Der Kommissar, der das Verhör leitete, lässt verlautbaren, dass der Kapitän festgenommen wäre. Die Polizisten ziehen mit ihrem Verhafteten zum örtlichen Rathaus, im Schlepptau eine wütende Menge. Pierre Canut, so sieht man gleich, war ein geschätzter Mann im Ort und keiner traute ihm zu, das vorgeworfene Verbrechen begangen zu haben.
Am 1. Februar war Monsieur Emil Fevrier in seinem Haus ermordet wurde. Dem Mann war die Kehle durchgeschnitten worden, fast sicher keine feine Tat gewesen war, aber es erhitzte die Gemüter am Orte nicht. Fevrier war nur ein Zugezogener. Hinzu kam, dass sicher viele wussten, was für eine Rolle Fevrier nach dem Untergang der »Telemach« (Télemaque) gespielt hat. Dieses Schiff war vor Rio untergegangen und ein Teil der Besatzung konnte sich in einem Beiboot retten können. Danach begann eine lange und schwierige Zeit, in dessen Verlauf Pierre Canut – Vater des Verhafteten – sich das Leben nahm. Die Geschichte hatte einen faden Beigeschmack; nicht nur einer der Bewohner des Städtchens vermuteten, dass die Überlebenden sich aus reinem Überlebenstrieb an ihrem Kapitän vergangen hatten. Den Söhnen von Pierre Canut – Pierre und Charles Canut – was das recht egal, es war ein Ereignis, dass in der Vergangenheit lag – die Mutter der beiden Brüder sah das Ereignis ein wenig anders, und seitdem sich der Gerettete Fevrier im Ort niedergelassen hatte, verfolgte sie ihn immer wieder und bezichtigte ihn des Mordes.
Die Verhaftung erfolgte nicht aufgrund von kleinen Hinweisen, ein paar Indizien wiesen den Weg zu Pierre Canut. Dazu gehörte zu allerst die Tatsache, dass der Kapitän ohne Umschweife zugab, am Abend der Ermordung, im Hause Fevriers gewesen zu sein. Hinzu kam allerdings, dass man ein Messer mit den Initialen PC fand, ein Messer, mit dem Fevrier die Kehle durchgeschnitten wurde. Das ließ die Polizisten messerscharf kombinieren, dass Canut der Mörder war.
Der Reeder und der Bürgermeister versuchten ihr Möglichstes, um eine Verhaftung zu verhindern. Der Untersuchungsrichter in Rouen ließ sich aber nicht erweichen: er fand die Beweise eindeutig und bestand darauf, dass der Verhaftete ihm vorgeführt wurde.
Leicht macht es ihnen der normannische Dickkopf nicht: er weigert sich, zuzugeben, dass er Fevrier umgebracht hat. Obwohl er mit einer Vielzahl von Beweisen konfrontiert wird, beharrt er auf seiner Unschuld. Nicht nur das ärgert den Untersuchungsrichter: Canut lehnt den ihm zugewiesenen Pflichtverteidiger ab, weigert sich, ihn zu empfangen.
Charles und Pierre Canut waren Zwillinge. Mit der Behauptung, dass Charles der Kopf und Pierre die ausführende Hand wären, läge man gar nicht so falsch. Pierre brachte es nur zum Kapitän, weil Charles ihn ordentlich trainiert hatte. Die Menschen von Fécamp schätzten Pierre Canut außerordentlich, aber sie respektierten Charles als Familienoberhaupt. Charles war schwächlicher, litt unter einer Lungenkrankheit. Nun muss er alle Zügel in die Hand nehmen, und sich daran machen, seine Bruder zu retten, von dessen Unschuld er überzeugt ist.
Der erste Schachzug endet mit Ernüchterung: er darf seinen Bruder nicht sehen und seine Vernehmung durch den Untersuchungsrichter nützt seinem Bruder nicht. Im Gegenteil – Charles Canut muss peinliche Sachverhalte zugeben. Beispielsweise, dass er dem alten Fevrier Briefe geschrieben hatte, in dem er den Zugezogenen aufforderte, den Ort zu verlassen, da die Situation für die Mutter Canuts immer unerträglicher wurde. Der Untersuchungsrichter glaubte eins und eins zusammenzählen zu können. Nachdem sich Fevrier der Aufforderung des Kopfes der Familie widersetzt hatte, musste die Hand Tatsachen schaffen – durch einen Mord an dem alten Seemann.
Niedergeschlagen machte sich Charles, der Bahnbeamter war, auf den Heimweg nach Fécamp. Er entschließt sich, den Mörder an Fevrier aufzuspüren. Dazu reicht er Urlaub ein und verfolgt eine erste Spur.
Es ist beeindruckend, wie die Bevölkerung der kleinen Stadt zusammenrückt, um den Canuts ihre Unterstützung zu gewähren und wie sie dem Kapitän ihr Vertrauen ausspricht. Bei diesem Zusammenrücken darf man meines Erachtens nicht vergessen, dass es auch im Negativen passiert, wie man zum Beispiel bei »Die Verlobung des Monsieur Hire« geschah. Die Frage ist immer, ob der Verfolgte ein Liebling der Einheimischen ist oder nicht. In beiden Fällen ist das Engagement kontraproduktiv, denn es wird sich nicht an Fakten orientiert, sondern an Eindrücken und Vorlieben. Verständlich, dass die Polizei in einer solchen Atmosphäre einen schweren Stand hat.
Charles ist das Gegenteil zu seinem Bruder. Die Unterstützung der Bevölkerung genießt er nicht. Seine Unternehmung, die Unschuld des Bruders zu beweisen, wird mit großer Skepsis betrachtet. Wäre er der Verdächtige, könnte er sicher sein, dass er in viel größeren Schwierigkeiten stecken würde, als sein Bruder.