Über die Story
Da fragt man sich die ganze Zeit beim Lesen des Buches: Ist der jetzt wütend? Nein, ärgerlich, aber nicht wütend. Aber da der Titel ja ziemlich genau dem Französischen entlehnt wurde, muss da noch was kommen – leere Versprechungen im Titel sind Simenon ja nun nicht zuzutrauen. Aber der Reihe nach.
Maigret hatte mit bürokratischem Kram zu tun, Empfehlungen auszuarbeiten, die keinen interessieren und im übelsten Fall so realisiert werden würden, dass sie das Gegenteil vom Vorgeschlagenem darstellen. Er machte sich frustriert auf den Weg in Brasserie Dauphine, in der er Lucas mit einem Unbekannten sitzen sieht.
»Haben Sie einen Augenblick Zeit, Chef? Ich glaube, das könnte Sie interessieren…«
Der Kommissar folgte ihm mit seinem Glas in der Hand. Der Unbekannte erhob sich. Lucas stellte vor:
»Antonio Farano… Kennen Sie ihn?«
Der Name sagte dem Kommissar nichts, aber er hatte den Eindruck, dieses Gesicht eines hübschen Italieners schon einmal gesehen zu haben, der die Rollen jugendlicher Liebhaber im Film spielen könnte. Der rote Sportwagen gehörte zweifellos ihm.
Lucas hatte in der letzten Zeit häufiger mit seinem Schwager zu tun gehabt.
Vor Kurzem gab es in der Bar-Szene um den Pigalle einen »kleinen« Konflikt. Mazotti, der den Konflikt begann, wurde am Ende vor einer Bar in der Rue Fontaine niedergeschossen. Die Angreifer hatten gründlich gearbeitet: Mazotti bekam keine Gelegenheit, eine Revanche zu organisieren. Der Schwager des Italieners war einer der Verdächtigen, da er sich – was man ihm nicht zutraute – heftig gegen die Begehrlichkeiten des Verstorbenen wehrte. Nicht, dass er sich selbst die Hände schmutzig machte! Das war nicht sein Stil. Er ließ ein paar Dockarbeiter aus Le Havre kommen, das war sehr wirksam.
Barbesitzer, zumindest am Pigalle, waren harte Hunde. Das stimmte und stimmte gleichzeitig nicht. Für die Anderen mochte das zutreffen, für jedoch Emile Boulay nicht. Er führte das Leben eines Buchhalters, mied Konflikte und liebte seine Familie. Auf den Gedanken, fremd zu gehen, obwohl die Versuchung jeden Abend vor seinen Augen tanzt, kam der Mann nicht.
Monsieur Emile hatte eine Vorladung zu einem Verhör bei Lucas, zu dem er nicht erschienen war. Kurze Zeit später steht der Italiener vor der Tür und berichtete, dass der zu Verhörende verschwunden war. Nicht abgetaucht, warum auch, er hatte sich ja nichts vorzuwerfen. Mit der Affäre Mazotti hatte dieser Barbesitzer nichts zu tun. Die Familie war ernsthaft besorgt.
Man könne nichts zu tun, ist der Tenor der Polizei, denn vierundzwanzig Stunden seien keine Zeit um eine Großfahndung einzuleiten, der Schwager muss wieder abziehen.
Am übernächsten Morgen, als Maigret die Berichte der Nachtereignisse durchschaute, hatte er Monsieur Emile gefunden. Das nur im übertragenen Sinne: Gefunden hatten ihn Anwohner der Rue des Rondeaux am Rande des Père-Lachaise. Was machte er denn da, fragte sich Maigret. Er hatte gehört, dass der Barbesitzer ungern das 9. Arrondissements verließ und nun hatte er sich im 20. ermorden lassen. Aber es kam noch besser. Der gute Mann war erwürgt worden. Das war noch viel außergewöhnlicher. Das Milieu bevorzugte andere Beseitigungsmethoden.
Der Kommissar machte auf, der Familie die Nachricht zu überbringen. Die Frau war Mitte zwanzig und Italienerin, die geborene Mutter, im Familienleben aufgehend. Bei ihnen wohnte ihre Mutter, die kein Wort französisch sprach. Außerdem war da noch die Schwester Ada, die als Sekretärin Monsieur Emiles gearbeitet hatte und ein bildhübsches achtzehnjähriges Mädchen war. Aus der Familie, das ist Maigret sofort klar, konnte keiner Interesse daran gehabt haben, den Mann umzubringen. Aber aus dem Milieu konnte es auch keiner sein.
Noch ein Punkt brachte den Kommissar schwer ins Grübeln: Der Barbesitzer wurde schon in der Nacht seines Verschwindens umgebracht, warum tauchte er drei Tage später auf. Die aus dem Milieu lassen die Verblichenen an Ort und Stelle liegen, warum sich mit einer Leiche belasten. Andererseits: Es war sehr, sehr warm – Mitte Juni – wer hob eine Leiche zwei Tage bei solchem Wetter im Haus auf?