Der Mann im Schatten
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Der Samtvorhang am Eingang wurde zur Seite geschoben. Ein Mann reichte dem Pikkolo seine Melone, blieb einen Augenblick stehen, um sich im Saal umzusehen. Er war groß, schwerfällig und dick. Sein Gesicht war gelassen, und er achtete überhaupt nicht auf den Kellner, der ihm einen Tisch empfehlen wollte. Er setzte sich wahllos irgendwohin.
»Kann ich ein Bier haben?«
»Wir haben nur englisches. Stout, Pale Ale, Scotch Ale?«
Und der Gast hob die Achseln, um auszudrücken, dass ihm das völlig gleichgültig war.
Wer das ist, muss nicht erwähnt werden. Der Auftritt, die Gestik sind so typisch. Interessant ist da schon eher, zu erfahren, wo dieser Auftritt stattgefunden hat: in Lüttich, der Geburtsstadt Simenons. Es ist nicht die einzige Erzählung, in der der Kommissar mit dieser Stadt in Berührung kommt, schon in »Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien« setzte sich Simenon mit seiner Heimat auseinander.
Jean Chabot, knapp sechzehnjährig, sitzt zusammen mit seinem Freund René Delfosse in einer Bar namens Gai Moulin, und zusammen himmeln sie Adèle an, die in diesem Etablissement für die Animierung zuständig ist. Gerade hatte sie die Beiden verlassen um sich einem neuen Gast zuzuwenden, der mehr als wohlhabend aussah. Die beiden Grünschnäbel standen da natürlich ersteinmal zurück.
Die beiden Jungen, der eine aus einer Buchhalter-Familie stammend, der andere aus wohlhabendem Hause, hatte so ihre Nöte – das nicht nur in hormoneller Hinsicht, sondern auch in finanzieller. Für die Nacht haben sie einen großen Coup geplant. Die Kasse der ihrer Lieblingsbar wird nicht vollständig geleert, ein ansehnlicher Rest bleibt immer zurück. Diesen wollen sie sich aneignen, um unter anderem ihre finanziellen Rückstände in der Bar zu begleichen.
Dazu verdrücken sie sich rechtzeitig aus der Bar und machen es sich im Keller bequem. Nach dem der Wirt die letzten Gäste verscheucht hat und mit seinen Angestellten aufgeräumt hat, schlägt die Stunde der beiden Jungs.
»Licht!« haucht Chabot.
Delfosse streicht ein Zündholz an. Sie halten einen Augenblick inne, um Atem zu schöpfen, um die Strecke bis zur Bar übersehen zu können. Doch plötzlich fällt das Streichholz zu Boden, indessen Delfosse einen gellenden Schrei ausstößt, und zur Toilettentür stürzt. Im Dunkeln findet er sie nicht. Er kehrt um, prallt auf Chabot.
»Schnell! Raus!«
Es ist mehr ein heiseres Krächzen.
Auch Chabot hat etwas gesehen, allerdings nur undeutlich. Etwas wie einen menschlichen Körper, am Boden, vor der Bar ... tiefschwarzes Haar ...
Das sah ganz so aus, als wäre es der Unbekannte gewesen, der von Adèle animiert worden war. Tot, hier in der Bar. Da kann man auch als Dieb schon mal in Panik geraten. (Es gab da auch einen anderen Dieb, der einmal in eine unangenehme Situation hineinschlitterte, als in ein Haus einbrach und feststellen musste, dass da eine Leiche auf ihn wartete, die er aber gar nicht mitnehmen wollte: »Maigret und die Bohnenstange«.)
Nicht nur, dass sie jetzt in der Verdacht geraten konnten, die Täter zu sein, das Geld hatten sie nach ihrer überhasteten Flucht immer noch nicht. Chabot machte das besonderes Kopfzerbrechen, hatte er doch einige Touren aus der Portokasse der Kanzlei finanziert, in der er arbeitete, und die er am nächsten Tag abzurechnen hatte. Aber wie heißt es so schön, kommt Zeit kommt Rat.
Am nächsten Morgen muss er aber als Erstes feststellen, dass ihm ein breitschultriger, gleichgültig wirkender Mann folgt, den er am Vorabend schon einmal in der Bar gesehen hatte – der mit dem Auftritt. So hat er nicht nur zwei Probleme (zur Erinnerung: kein Geld, ein Toter) am Hals, sondern drei. Aber es kam noch schöner: Die Mittagszeitungen vermeldeten: »Das Geheimnis des Weidenkoffers«. Der Tote aus der Bar war im Zoologischen Garten abgestellt worden, in einem Weidenkoffer. Wie kam er denn da hin?
Aber so wie Probleme auftauchen, so verschwinden sie auch. Der Dicke ist plötzlich weg. Am Nachmittag taucht sein Freund Delfosse auf, gibt ihm das Geld für die Portokasse – der Abend, so verabreden sie sich, wird in ihrer Stammbar verbracht.
Wenn Probleme plötzlich verschwinden, muss man auf der Hut sein, sie entspringen ansonsten bei der nächsten Gelegenheit einem solchen. Sie hatten es sich in der Bar gemütlich gemacht, da durchschritt der Unbekannte die Pforte, gab seine Melone ab und ließ sich ein Bier bringen. Delfosse sah ein Problem, mit dem Geld, das er hatte: er hatte es sich nicht am Vormittag erarbeitet, sondern beichtet Chabot, dass er es seinem Onkel, einem Schokoladenhändler, gestohlen hatte. Das Geld muss weg!
Chabot wird beauftragt, das Geld in der Toilette verschwinden zu lassen. Von diesem Toilettengang kehrt er nicht zurück. Die Polizei hat ihn ertappt, als er das Geld herunterspülen wollte, ihn eingebuchtet und verhört ihn im Kommissariat als Mörder von Ephraim Graphopulos – dem Toten im Weidenkoffer.
Das nennt man Pech. Chabot leugnet den Mord, den er nicht begangen hat. Hilfreich ist dabei nicht, dass sein Freund Delfosse sich aus der Stadt abgesetzt hat, nicht ohne vorher noch Adèle zu bestehlen.
Da fällt ihm nur noch ein, dass der dicke Mann der Mörder sein könnte, hatte der sich nicht sehr verdächtig benommen. Das leuchtet auch den Lütticher Polizisten ein: die Jagd auf den Unbekannten beginnt.
Eine rundherum gelungene Maigret-Erzählung!