Blutente nach Vichy
Das eine oder andere Mal habe ich mich gefragt, ob es gut wäre, einen Arzt in der Familie zu haben oder als engen Freund. So, wie es gut ist, einen Tischler oder Elektriker in der Familie zu haben oder auch einen Masseur. Vielleicht im Falle eines Unglücks, aber so im normalen Leben: »Hmm, willst Du wirklich noch von der Pastete nehmen?« oder »Natürlich ist es Deine Entscheidung, aber Du kannst auch nächste Woche noch zum Sport gehen.« Die Frage habe ich noch nicht abschließend geklärt, da ich aber mittlerweile sowohl übergewichtige wie auch rauchende Ärzte kennengelernt habe, gehe ich davon aus, dass sie Ärzte außerhalb der Praxis ihren kritischen Blick etwas zurücknehmen.
Betrachtet man das Leben von Maigret, so wird man feststellen, dass er nicht viele Freunde hat. Hin und wieder taucht mal einer aus der Vergangenheit aus, der in der Regel prompt Hilfe benötigt. Der einzige Freund ist wohl Dr. Pardon. Bei ihm und seiner Frau verkehren die Maigrets regelmäßig und zu Beginn dieser Geschichte sind die Maigrets bei ihm zu Hause und wollen ihre regelmäßigen Treffen genießen. Madame Pardon hatte sich ordentlich ins Zeug gelegt: Es gab Ente in Blut-Sauce, eine Leibspeise Maigrets. Leider ging es Maigret an diesem Abend nicht gut. Pardon erkannte das mit dem geschulten Blick eines Arztes und nachdem der Kommissar auch noch den als Digestif angebotenen Armagnac abgelehnt hatte, bat ihn der Arzt in die Praxis für eine kleine Untersuchung.
Es war eine dieser kleinen Untersuchen, die für sich schon gut tun. Ein wenig Drücken hier, eine kleine Blutdruck-Messung dort. Dazu ein Gespräch über das allgemeine Befinden und schließlich stellte Pardon fest, dass bei Maigret alles im Lot wäre. Heute würde man es einen Erschöpfungszustand nennen, denn die einzige Empfehlung, die der Arzt seinem Patienten-Freund mit auf den Weg gab, war, er möge sich einmal erholen, beispielsweise bei einer Kur.
So kam Maigret zu Dr. Rian in Vichy, zu einer Diät und einer Leiche. Es lief haargenau in dieser Reihenfolge ab. Zuerst begab sich Maigret zu dem empfohlenen Arzt. Dort führte er ein Gespräch, dass so zeitlos lustig ist und bei dem ich an einigen Stellen das Gefühl hatte, ich würde interviewt werden. Erst wurde das Essen abgefragt:
»Halten Sie sich an irgendeine Diät?«
Musste er jetzt nicht zugeben, dass er geschmorte Gerichte liebte, Ragouts, Saucen, die nach sämtlichen Johanniskräutern der Welt dufteten?
»Aha, Sie sind also nicht nur ein Gourmet, Sie sind auch ein großer Esser?«
»Ziemlich, ja…«
Meine volle Sympathie und mein Mitgefühl gilt schon bei diesem kleinen Abschnitt dem Kommissar. Etwas kritischer sind seine Trink-Gewohnheiten zu sehen. Das ging mit dem Bier in den Vormittagsstunden schon los und wurde nicht besser dadurch, dass Maigret mehr kleine Trink-Zwischen-Mahlzeiten einnahm, denn richtige Mahlzeiten. Heutzutage müsste Maigret erst einmal anfangen ein Buch führen, in dem er aufschreibt, was er alles über den Tag konsumiert. Würde er das dann anschließend dem Arzt oder Ernährungsberater wieder vorlegen, darf man getrost davon ausgehen, dass er nicht so milde davon kommen täte, wie das bei Dr. Pardon und Dr. Rian der Fall war.
Das seine Trink-Gewohnheiten ein wenig auffällig waren, hatte Maigret auch erkannt und so kann man sagen, dass dies wohl der einzige Maigret-Roman ist, in dem nicht alle paar Seiten ein alkoholisches Getränk verspeist wird. Alkohol ist durchaus ein Thema, allerdings nur in Form in Bemerkungen wie, dass Maigret in Richtung Quelle ist, um sich ein Wasser zu holen, während der andere wahrscheinlich ein leckeres Bier trinken würde.
Maigret verließ den Arzt mit einer Diät-Empfehlung und dem Rat, sich zweimal am Tag bei Quellen einzufinden, um dort Wasser zu trinken. Bewegung war das Zauberwort und so fingen Madame Maigret und ihr Mann an, den ganzen Tag durch Vichy zu spazieren. Das Wetter schien bestens zu sein, von Regen liest man kein einziges Mal. Natürlich hatte Maigret mit seiner Berufskrankheit zu kämpfen – der Neugier. Er beobachtete für sein Leben gern die Menschen und bald fiel sowohl ihm wie auch seiner Frau eine Dame auf, die nicht nur einen ganz eigenen Kleidungs- und Farbstil pflegte, sondern auch feste Gewohnheiten hatte. Sie nannten die Frau »Die Dame in Lila«.
Einen Abend vermissten sie die Dame und schon am nächsten Morgen musste Maigret mit Erstaunen in der Zeitung lesen, dass die Frau tot aufgefunden worden war. Ermordet.
Bei diesem morgendlichen Spaziergang konnte es sich Maigret nicht verkneifen, einen kleinen Umweg zu gehen und das Haus der Dame zu inspizieren. Ein alter Spezi von ihm, der schon lange wusste, dass der Maigret in der Stadt war, führte die Untersuchung zu dem Mord und brachte den Kommissar-im-Urlaub dazu, sich in die Ermittlungen einzuschalten.
Wie er das schaffte? Er präsentierte dem Kommissar eine Reihe von Fakten, die sehr verwirrend waren. Da war die Biographie der Frau, die sie von einem kleinen Ort an der Atlantikküste über La Rochelle, Paris und Nizza nach Vichy führte. Da war die Tatsache, dass sie in Paris noch gearbeitet hat, aber in Nizza nicht mehr – wie war das möglich? Er erfuhr, dass die Dame Hélène Lange hieß, eine kleine Pension führte und sich der ganzen Welt gegenüber zurückhielt. Warum nimmt jemand, der Menschen nicht zu mögen schien und das Alleinsein mochte, noch Gäste auf? Diese geheimnisvolle Dame der Welt stellt Maigret vor die größte aller Fragen in dem Fall: Wer bringt eine Frau wie Mademoiselle Hélène um und warum?
Nun kam dem Kommissar ein wenig Unterhaltung dieser Art durchaus zupass. Aber er wollte natürlich seine Frau nicht enttäuschen, genauso wenig seinen Arzt und Freund, in dem er sich in eine Ermittlung stürzte. So wird er zu einer Art Freizeit-Detektiv, der hin und wieder Anstöße gibt. Ein Ermittler, der in seinem Sessel im Kurpark sitzt, leckeres oder auch nur gesundes Wasser trinkt und über einen Mord nachsinnt.
Dieser Maigret gehört zum Maigret-Spätwerk Simenons. Man folgt dem Kommissar gern auf seinen Expeditionen durch Vichy, leidet mit ihm, wenn er die Mager-Kost zu sich nimmt und selbst auf ein kleines Gläschen Wein verzichtet.