Über die Story
»Es ist ein Polizeibeamter aus Paris.«
»Er soll wegen der Kuh da sein, die letzte Woche bei Mathieu krepiert ist.«
Nein, Maigret ist nicht wie in »Maigret im Haus des Richters« strafversetzt worden und muss sich jetzt mit Hühnern, Kühen und Schweinen herumschlagen. Was ihn in die ländliche Gegend gebracht hat, ist ein Schreiben, dass die Polizei aus Moulins an die Kriminalpolizei nach Paris geschickt hat:
Ich gebe hiermit folgendes bekannt: Es wird ein Verbrechen geschehen, und zwar in der Kirche von Saint-Fiacre, während der Frühmesse zu Allerseelen.
Nun ist die Preisfrage: Was interessiert Maigret an einem solchen angekündigten Verbrechen in Saint-Fiacre so sehr, dass er dorthin aufbricht, um zu schauen, was passiert? Jeder einigermaßen Maigret-Kundige grübelt, grübelt und ein Lächeln erhellt sein Gesicht: Saint-Fiacre, ist das nicht der Geburtsort Maigrets? Richtig.
Maigret macht sich aus dem Gasthof der Marie Tatin, die ihn nicht wiedererkannt, obwohl er ihr früher einmal Frösche in den Pilzkorb untergeschoben hatte (Nun ist er etwas reifer, Mitte vierzig, so dass man es Marie verzeihen kann, dass sie ihn nicht erkannt hat. Aus Marie ist das geworden, was er erwartet hatte, eine schielende, alternde Jungfer), auf den Weg zur Frühmesse. Diese ist nicht besonders gut besucht, während der Messe kann Maigret nichts beobachten, was besonders auffällig gewesen wäre. Trotzdem muss er am Ende der Messe konstatieren, dass nicht alle Kirchgänger, den geweihten Bau aufrechten Schrittes verlassen.
Zur Erinnerung: Maigrets Vater war Verwalter eines Grafes, des Grafen von Saint-Fiacre. Dieser starb ungefähr ungefähr 10 Jahre nach Maigrets Vater und hinterließ eine trauernde, verunsicherte Witwe und einen Sohn, der zehn bis fünfzehn Jahre jünger war als Maigret - um die dreißig Jahre zum Zeitpunkt des Verbrechens.
Nicht der Sohn war aber Opfer des Verbrechens, die Gräfin konnte die Messe nicht mehr aufrechten Ganges verlassen. Der Arzt, der hinzugerufen wird und Maigret, bringen die Gräfin zum Schloss, um sie dort näher zu untersuchen. Nachdem Maigret schon in der Kirche gesehen hat, dass keine ins Auge fallenden Verletzungen vorlagen, war er gespannt auf die Todesursache, die der Arzt herausbekommt. Das Ergebnis war für einen Mord schon überraschend: Herzversagen.
Was konnte die Gräfin so aus dem Gleichgewicht gebracht haben, dass sie in der Kirche zusammenbrach. Maigret machte sich schnurstracks auf den Weg in die Kirche. Das Messbuch der Gräfin lag nicht an dem Platz, an dem sie zusammengebrochen ist. Der Kommissar findet das Buch nicht und setzt daraufhin im Dorf eine Belohnung aus. Kurze Zeit später meldet sich eine Mutter, ihr Sohn – ein Messdiener – hätte das Buch unter seinen Sachen gefunden und einfach mit nach Hause genommen. Gegen die Belohnung gab die Frau Maigret das Buch. Der findet in dem Messbuch eine interessante Notiz:
Paris, 1. November. Ein dramatischer Selbstmord ereignete sich heute früh an der Rue de Miromesnil, in einem seit mehreren Jahren vom Grafen des Saint-Fiacre und seiner Freundin, einer Russin namens Marie V., bewohnten Appartement.
Nachdem er seiner Gefährtin erklärt hatte, dass er sich des Skandals schäme, den ein bestimmtes Mitglied der Familie verschuldete, schoss sich der Graf eine Pistolenkugel in den Kopf und verschied wenige Minuten später, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
Wir glauben zu wissen, dass es sich um ein besonders unerquickliches Familiendrama handelt und bei dem oben erwähnten Familienmitglied um die eigene Mutter des Verzweifelten.
Man kann wohl behaupten, dass einen eine solche Mitteilung so verschrecken kann, dass sie einen ins Grab bringt. Derjenige, der die Mitteilung in das Messbuch der Gräfin gelegt hatte, hat darauf spekuliert.
Mit »Maigret und die Affäre Saint-Fiacre« hat Simenon eine Erzählung geschrieben, die aus dem Rahmen der anderen Maigret-Erzählungen herausfällt. Sie lehnt sich an eine angelsächsische Tradition an, die sonst selten in Maigret-Erzählungen zu finden ist. Aber gerade das macht sie besonders interessant und lesenswert.
Zu den Verdächtigen zählen der Graf de Saint-Fiacre, der hochverschuldet war und gerade an diesem Tage auf dem Wege zu der Frau Mama um Geld zu besorgen, welches er zur Vermeidung eines ungedeckten Schecks benötigte. Ein anderer heißer Kandidat ist Jean Métayer, der als Sekretär bei der Gräfin angestellt war und nebenbei als deren Liebhaber fungierte. Er hatte einen großen Teil des Geldes der Gräfin bei ominösen Finanz- und Börsengeschichten um die Ecke gebracht. Aber hatte er ein Interesse an einer toten und damit versiegenden Geldquelle? Auch der Arzt, der Pfarrer, der Verwalter und sein Sohn, auch ein Liebhaber der Madame, sind mit Boot.
Maigret ist aber nicht der, der aktiv aufklärt und ist in dem Spiel, bei dem es nicht um einen strafbaren Mord geht, sondern »nur« um eine verwerfliche moralische Handlung, nur eine Randfigur. Der Kommissar scheint in einer anderen Zeit verfangen…