Im Laufe der Jahre
Gerade noch hatte er sich Gedanken über das Tun einer Fliege gemacht, die mit ihm zu spielen schien, während er sich durch die Berichte seiner Mitarbeiter arbeitete. Seine Gedanken schweiften ab und erinnerte sich daran, dass die Fliegen über dem Pult des Lehrers manchmal interessanter waren als der Unterricht selbst, da lässt Joseph mitteilen, dass ein Mann Maigret sprechen möchte. Bevor er den Mann eintreten lässt, lässt der Kommissar sich den Besucher am Quai des Orfèvres von Joseph ausführlich beschreiben. Der Name – Léon Florentin – sagte ihm was, keine Frage, und die Schilderung von Joseph machten Maigret schon ziemlich sicher, dass er es mit einem Klassenkameraden zu tun hatte, der mit ihm gemeinsam in Moulins zum Gymnasium gegangen war. Mit dem Eintritt des Mannes wurde der starke Verdacht zur Gewissheit.
Verzwickte Lage
Man könnte meinen, dass bei der Erstellung einer Klassen-»Besetzungsliste« immer darauf geachtet wird, dass ein Klassenclown mit dabei ist. Manchmal spielt der sogar die Hauptrolle. Man kann sich unschwer denken, dass damals die Rolle nicht an Maigret herangetragen wurde. Die Rolle hatte der nun eingetretene Monsieur Florentin inne und es ist zwar von »Jugendfreund« sowohl im französischen wie auch im deutschen Roman-Titel die Rede, das Bild trifft aber nur, wenn alle Klassenkameraden auch als Schulfreunde bezeichnet würden. Ich persönlich würde soweit nicht gehen und Maigret tut das übrigens auch nicht.
Zumal Florentin eine unangenehme Eigenschaft hat: Er verursachte überall Ärger. Mit seinem Eintreten in das Büro, das ahnte der Kommissar aber noch nicht, klebte der Ärger nun auch wie Pech an Maigret.
Die beiden Schulkameraden hatten sich Ewigkeiten nicht gesehen. Das letzte Zusammentreffen fand achtzehn Jahre zuvor am Place de la Madeleine statt. Damals machte Florentin einen selbstbewussten Eindruck, die Frau an der Seite von Florentin, die Maigret damals kennenlernte, wirkte sehr elegant. Seine Ehefrau wurde die Frau nicht.
Auf die Frage, wie es ihm denn jetzt als Antiquar ginge, meinte Florentin, dass er sich nicht beklagen könne. Also ganz gut, wenn ihm da nicht die Malheur widerfahren wäre. Nun kann man es drehen und wenn wie man will, aber als Florentin Maigret schildert, dass am Nachmittag seine derzeitige Freundin Joséphine Papet – eine Art Lebensgefährtin – erschossen worden wäre, während er in ihrem Ankleidezimmer wartete, kann der Kommissar darin kein Malheur entdecken. In der Hitliste der Verdächtigen stieg sein Klassenkamerad damit kometenhaft auf. Mademoiselle Papets wurde von drei Herren gesponsert, wenn man es so sagen will, und sie war peinlich genau darauf bedacht, dass sich ihre Unterstützer nicht über den Weg liefen. Natürlich auch nicht ihrem Lebensgefährten Léon Florentin.
Kann es noch schlimmer kommen? Oh ja, es geht immer noch ein wenig schlimmer. Florentin brauchte eine ganze Weile, ehe er den Entschluss gefasst hatte, zur Polizei zu gehen. So etwa eine Stunde.
Jeden anderen hätte Maigret sofort in Haft genommen. Aber hier war ein alter Kamerad aus alten Zeiten, der Hilfe bei ihm suchte. Ein irgendwie verkommener Kamerad, das wohl, aber ein Kamerad.
Drei plus eins plus eins
Nachdem hier schon die rhetorische Frage gestellt worden war, ob es noch schlimmer kommen könnte, sei hier auch noch die rhetorische Frage gestellt, ob der Kommissar sich noch unangenehmere Menschen vorstellen könnte? Er erwartete das nicht, aber es sollte so kommen. Eine heiße Kandidatin für eine Hassliebe war die Concierge des Hauses, in dem die Verblichene – Joséphine Papet – gewohnt hatte. Dürfte eine Jury nur ein Wort verwenden, um sie zu beschreiben, so würde sie sich vermutlich auf »pampig« einigen. Diese Kombination mit einem schon angefressenen Kommissar ergibt nicht die erfreulichste Melange.
Man konnte Mademoiselle Papet wohl vorwerfen, dass sie recht flexibel war, was ihre Moral anging, aber sie war sehr diskret. Die Männer bekamen, wofür sie bezahlten. Eine verständnisvolle Mittdreißigerin, die sie nicht ausnahm und erpresste, die lieb und nett zu ihnen war und viel Verständnis für ihre Sorgen hatten. Sie war zudem äußerst diskret und diese Diskretion machte es nun sehr schwierig für Maigret, herauszufinden, wer denn die Männer waren.
Die Concierge war keine große Hilfe und Florentin hatte nur die Namen von zweien der Männer. Der dritte Mann war der Hinkende und es gab noch einen ganz Jungen, der seinen Namen durch seine Haare bekam – der Rothaarige.
Der Hauptverdächtige in diesem Fall, an der Tatsache kam der Kommissar nicht vorbei, war sein alter Klassenkamerad Léon Florentin. Wenn man den geheimnisvollen Fremden nicht fand, so war es Florentin, der zu verhaften war. Überhaupt stellten sich schon eine ganze Reihe von Leuten die Frage, warum Maigret so schonend mit dem Mann umging. So viele Indizien sprachen gegen ihm: Man fand Geld seiner Geliebten in seiner Wohnung. Maigret ließ ihn beschatten und er sprang in die Seine – warum? Der Mann hatte kein Geld. Wenn man Florentin etwas fragte, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er einen anlog.
Unzufriedenheit und Erkenntnis
Wer diesen Maigret in die Hände nimmt, kann sich darauf gefasst machen, es mit einem Kommissar zu tun zu bekommen, der große Teile der Geschichte unzufrieden ist. Er grummelt vor sich hin, weil er mit diesem Clown, der nicht erwachsen geworden war und sein Leben nicht in Griff bekommen hatte, abgeben musste. Vielmehr riskierte der Kommissar noch Verwarnungen oder Schlimmeres, schließlich war sein Verhalten in diesem Fall nicht korrekt. Florentin hätte hinter Gitter gemusst, die schützende Hand Maigrets verhinderte dies jedoch.
Bei diesem späten Roman bekommen wir es darüber hinaus mit zwei Aspekten modernen Lebens zu tun: Madame Maigret hatte einen Führerschein gemacht und machte zusammen mit ihrem Mann am Wochenende Ausflüge im familieneigenen Auto. Sie war, so heißt es, noch ein wenig unsicher und zwischen den Zeilen kann man auch lesen, dass Maigret nicht der beste Beifahrer unter der Sonne war. Außerdem haben die Maigrets auch einen Fernseher und sie schauen, nachdem Dafürhalten Maigrets, zu viel davon.
Amüsant finde ich übrigens noch das: Janvier inspizierte das Auto von Joséphine Papet und meldete zurück, dass das zwei Jahre alte Auto nur 24.000 Kilometer gefahren sei. Die Betonung liegt auf »nur«. Ich finde für jemanden wie Mademoiselle Papet, die in der Stadt wohl nicht mit dem Auto fuhr und die im <i>Home Office</i> arbeitete, sind 12.000 Kilometer pro Jahr schon eine Menge Holz. Das müssen schöne Ausflüge am Wochenende gewesen sein, die sie unternommen hatte.