Ein Spanier in Paris
Warum ermittelte der Richter in diesem Fall? Monsieur Rodrigues war festgenommen worden, weil er verdächtigt wurde, einen jungen Mann umgebracht zu haben. Außer Frage stand, dass dieser junge Mann ein Besucher von ihm gewesen war. Uneinigkeit bestand darüber, ob der junge Mann die Wohnung von Monsieur Rodrigues lebend verlassen hatte (was selbiger behauptete) oder er in leblosem Zustand das mehrstöckige Haus verließ.
Der Spanier hatte eine Erklärung: Der junge Mann habe gemeinsam mit ihm das Haus verlassen, aber sie hätte sich dann getrennt. Dann wäre er wohl in üble Gesellschaft geraten und die Kerle – denn vermutlich waren es Kerle – hätten ihn niedergestochen und in die Seine geworfen. Dort war er aber in den Haltetauen eines Schiffes hängengeblieben, weshalb sein Leichnam sehr schnell gefunden wurde.
Zu keinem Zeitpunkt hat man den Eindruck, dass der Richter irgendeine Sympathie für den Verdächtigten aufbrachte. In der Geschichte, die im Unterschied zu der ersten Geschichte des Froget-Zyklus nicht aus der Ich-Perspektive geschrieben wurde, wird Monsieur Rodrigues unvorteilhaft dargestellt: Äußerlich gepflegt war er bedacht ein jugendliches Erscheinungsbild zu bewahren. Gefärbtes Haar und eine sorgsam gepflegte Haut, die dick mit Schminke bedeckt war, ließen auf eine gewisse Exzentrik schließen. Eine Narbe auf seinem Nasenrücken zeugte von einer Operation, die Rodrigues aus ästhetischen Gründen vornehmen ließ. Er war der Meinung, dass es die Pflicht eines Mannes wäre, schön zu sein. Die Schilderungen erwecken Zweifel, ob ihm das alles gelang. Der Spanier wird er als großer, hagerer Mann beschrieben, der an einen verblassten Aristokraten oder einen gealterten Clown erinnert.
Ambivalent wird es, wenn man die sexuelle Orientierung des Verdächtigen betrachtet. Der Mann äußert sich ablehnend gegenüber Frauen – und das ganz allgemein –, gleichzeitig wird betont, dass er zwar mit Männern umgab (vorzugsweise im jugendlichen Alter), aber dass ihm keine homosexuellen Handlungen nachgewiesen worden waren. Die Umschreibung in der Geschichte war »widernatürlichen Praktiken«. Der Erzähler lässt die Leserinnen und Leser an der Stelle im Unklaren, denn nur weil einem etwas nicht nachgewiesen hat, heißt es nicht, dass er es nicht getan hat. Gab nur keine Beweise.
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Die Wohnung von Rodrigues befand sich im sechsten Stock eines Hauses in der Rue Bonaparte. Eine Dachgeschosswohnung, in der der Mann seinen extravaganten Stil auslebte. Sie bestand aus fünf Räumen mit schrägen Decken. Froget bewegte sich bei dieser Ortsbegehung durch eine opulente und exotische Einrichtung. Überall fanden sich rote Teppiche, kuriose Kunstgegenstände aus verschiedenen Kulturen und Epochen. Eingerichtet waren den Räume mit Diwanen, niedrigen Tischen und Kissen, während der Geruch von Räucherharz, kostbaren Parfums und Schmutz allgegenwärtig war. Die Wohnung wirkte extravagant und dekadent, gleichzeitig ungepflegt, mit einem Hauch von Verfall. Und es handelte sich um eine luxuriöse Drogen-Dachgeschosswohnung.
Denn das war es, was die jungen Männer wohl zu Rodrigues brachte. So auch den Toten. Da es sich bei diesem um den Sohn eines Herzogs und einer Herzogin handelte, die am spanischen Königshof eine bedeutende Rolle spielten, war es der Pariser Justiz nicht möglich, den Fall mit dem Stempel »Ist ja nur ein Drogentoter« abzutun.
Die gut lesbare Story wartet mit einer Klärung auf, die logisch und nachvollziehbar ist. Die Erklärung des Motivs wirkt trotzdem sehr konstruiert.