Einblicke

Ich finde es immer verdammt schwierig, etwas über einen Text zu schreiben – der schon verhältnismäßig kurz ist – und in dem der Autor über allgemeine Befindlichkeiten schreibt. Es gibt keine Handlung, sondern man erhält nur einen Einblick in die Gedankenwelt des Autoren.

Es ist eine kleine Achterbahnfahrt. Den größten Teil dieses Essays geht es um die Angst des Menschen und wie er sich dagegen wehrt. Simenon wählt als Einstieg die Tatsache, dass er beobachtet hat, dass sich seine Motive alle zehn Jahre wiederholen würden. Das, beteuert er, würde er nicht absichtlich machen und es geht ihm oft erst sehr spät auf – dann nämlich, wenn er den Roman zu Ende geschrieben hat. Es mag vordergründig um die Beziehung eines Paares gehen, einen Vater-Sohn-Konflikt oder eines der zahllosen Probleme, die das Leben von Menschen zu bestimmen scheinen – aber die Essenz geht es um Angst.

Romantisierung

Keinen Tag in meinem Alltag habe ich unter Not gelitten – es war allermeistes warm, ich hatte jeden Tag zu essen und ich musste mir nicht wirklich Gedanken darüber machen, ob ich ausgeraubt werde. Jeden Tag meines Lebens habe ich in einer Gegend dieser Welt gelebt, die vielleicht nicht sicher war (Ost-West-Konflikt, Atomwaffen, etc.), aber in meiner eigenen kleinen Welt, war diese Welt doch sicher. Keine bewaffneten Banden, die durch die Straßen zogen und Menschen umbrachten, egal ob aus kriminellen oder pseudo-politischen oder -religiösen Gründen. Es gab kein Gefühl der Bedrohung, welches mich in Mark und Bein erschüttert hätte.

Ich sehe das als Privileg.

Denn mir ist bewusst, dass das nicht jeder hat. Ich war durchaus in Gegenden dieser Welt, wo das ganz anders war. Ich habe bittere Armut gesehen und ich hatte nicht einen Augenblick das Gefühl, dass es ein gute Idee wäre, mit den Menschen zu tauschen. Völlig unabhängig davon, dass ich das Leben, das ich führen darf, auch anderen Menschen gönne. Auch diesen Menschen.

Es würde viel zu weit führen, wenn ich mich darüber auslasse, dass mein Wohlstand durchaus ein Produkt der Unterdrückung und Ausbeutung von anderen Menschen ist. Mir ist das bewusst.

Käme ich nun auf die Idee, zu sagen: Ich würde gern meinen Wohlstand hinter mir lassen, weil die Besitzlosigkeit Freiheit bedeutet? Nein, nicht im Leben, weil ich das nicht glaube. Simenon führt in seinem Essay aus, dass er die Besitzlosigkeit und die Freiheit der Clochards verehrt. Für ihn ist das ein unerreichbares Ziel.

Ganz ehrlich, da habe ich schon ein wenig geschluckt und befremdet mich. Ich halte das für einen Mythos, der mit der Realität nichts zu tun hat. Gerade die Besitzlosen, in Frankreich wären das die Clochards, sind besonders häufig die Opfer – von Polizisten, die in ihnen leichte Ziele ohne Rechte sehen, von Vandalen, die von diesen Menschen, die oft auch noch körperlich die Schwächeren sind, keine Gegenwehr erwarten. Die Freiheit unter einer Brücke seiner Wahl zu übernachten, macht einen nicht froh, wenn man den Tag über um das kämpfen muss, was man zum Überleben benötigt.

Es mag den einen oder anderen geben, der auf dieses Leben ohne Besitz schwört – vielleicht sollte man erkunden, was diese dazu treibt. Die Masse der Besitzlosen wird das nicht unterschreiben wollen und sieht das von ihnen geführte Leben nicht als »Leben ohne Angst und Bedürfnisse«.

Zwei Anmerkungen hätte ich noch: Es gibt Menschen, die besitzen sehr, sehr wenig und leben in unseren Augen ärmlich. Aber sie haben gute Nahrung, die ihnen die Natur gibt, sie frieren nicht und haben die Möglichkeiten, sich gegen die Unbill der Natur zu schützen – diese Menschen leben vielleicht wirklich im Einklang mit der Natur und in Freiheit und sind – was alles toppt – auch noch glücklich. Das ist aber schwer mit dem Leben eines Clochard in Paris oder eines Obdachlosen in München zu vergleichen.

Einen gewissen Reichtum zu erlangen, wie es Simenon durch Talent und Ehrgeiz zu gelang, stellt einen absoluten Glücksfall da. Die meisten armen Menschen haben keine Perspektive und schaffen es nicht einmal zu einem geregelten Einkommen. Wenn Simenon es wirklich gewollt hätte, wäre es ihm in dem Alter ein Leichtes gewesen, für ein Auskommen seiner Kinder und Lieben zu sorgen – und den Rest abzugeben, um so zu leben, wie er es idealisiert.

Alter und Weisheit

Interessant dagegen ist der Abschnitt in dem Text, in dem Simenon eine Entwicklung schildert, die er durchgemacht hat: Um jeden Preis alt werden, war nicht sein Ziel. Die erste ständig einzunehmende Tablette, wäre ein guter Zieldurchlauf gewesen. Mit zunehmenden Alter arrangierte er sich aber mit dem selben. Es gab zwar negative Beispiele, wie Freunde, die durch einen Schlag getroffen wurden und dahinvegetierten: Ihn aber trieben zwei Sachen an: Die Freude an seinen Kindern und das Gefühl, von ihnen noch gebraucht zu werden – und die Neugierde, was das Alter noch so bringt.

Seine Regeln, mit denen er durch das Leben kam, klingen auch sehr sympathisch: Es ist ihm nicht unbedingt wichtig, was jedermann über ihn denkt – er versucht, die Leute einfach nicht vor den Kopf zustoßen und mit ihnen auszukommen.

Quellen

​Der Text erschien erstmals 1980 als Teil des Buches »Le Roman de L’Homme«, die erste deutsche Übersetzung erschien im »Du« von Oktober/November 2019.