Falsches Spiel mit Isaac Goldberg
Emile Michonnet ist Versicherungsvertreter auf dem Lande und sein Schätzchen ist ein neues Auto, dass er auf Kredit gekauft hat. Man kann sich sein Entsetzen vorstellen, als er eines Morgens die alte »Karre« seines Nachbarn in seiner Garage vorfindet. Dabei kann es sich nur um einen üblen Scherz handeln, weshalb er die Garage seines Nachbarn – Carl Andersen – prüft. In der findet er sein Auto wieder, sein Wagen hat allerdings einen gewichtigen Makel. Es sitzt ein Toter in ihm.
Die beiden Nachbarn wohnten in einem Weiler in der Nähe des kleinen Dorfes Avrainville. Die Häuser der lagen an der »Kreuzung der drei Witwen«. Trotzdem konnte man die Örtlichkeit nicht abgelegen nennen, denn an ihm führte eine Nationalstraße von Paris in Richtung Süden vorbei.
Eine weitere Besonderheit an dem Fall war das Opfer: Isaac Goldberg. Es handelte es sich um einen Mann aus Antwerpen, der dort als Diamanten-Händler tätig war. Natürlich hätte sich die Polizei die Frage stellen können, was denn ein solcher Mann an einem langweiligen Ort wie diesen zu tun hat und wie er dort hin kam. Die Polizei besitzt auch nicht viel Humor und kann deshalb dieser Konstellation nicht die komische Seiten abgewinnen, die man als Leser erkennen mag. Gewiss, auch die Angehörigen des Toten werden die komischen Seiten nicht erkannt haben. Denn ungleich unangenehmer wird die Situation noch dadurch, dass sich der Unbekannte nicht an seinem Scherz totgelacht hat, sondern erschossen wurde.
Wo wurde der Tote gefunden? Im Haus von Carl Andersen, der sich unschuldig gibt. Wen könnte man verhaften? Carl Andersen. So geschieht es auch.
Carl Andersen gibt an, er hätte von dem Vorfall nichts mitbekommen, er würde den Toten nicht kennen und hätte damit wohl auch kein Motiv. Er rückt von dieser Darstellung in einem siebzehn Stunden währenden Verhör keinen Augenblick ab. Maigret und Lucas wechseln sich ab, packen es mal härter an, mal weicher – sind mal die guten Polizisten, dann wieder ziemlich grob. Sie bekommen den Mann nicht weichgekocht. Härtere Ganoven als dieser Mann waren eher am Ende gewesen. Am Ende entscheiden Maigret und sein Untersuchungsrichter, dass man den jungen Mann wieder freilässt. Dieser begibt sich nach Hause.
Das tut Maigret auch, aber nur um seine Sachen zu packen. Er plant, den Tatort zu besuchen, um sich selbst ein Bild zu machen.
Es versteht sich, dass Maigret direkt zu Andersen begibt. Hier hat man den Toten gefunden, das war sein Tatort. Der Kommissar will die Atmosphäre aufnehmen und dort angekommen, dürfte er sich gar nicht mehr so sicher gewesen sein, ob er das noch will. Das Haus von Andersen war nicht klein, wie auch das Grundstück eine erhebliche und sicher auch arbeitsintensive Größe hatte.
In dem Haus wirkte alles ärmlich. Es war dunkel, es war dreckig und es war ungemütlich. Carl Andersen stellt Maigret seine Schwester Else vor, ein Kontrast zu ihrem Bruder. Während er sehr steif war und durch sein Monokel sehr ernst wirkte, war Else wohl das, was man in späteren Jahren als Sex-Bombe bezeichnet hätte. Man hörte Carl kaum an, dass er aus dem Ausland kam; Else jedoch hörte man es sofort an.
Aus Antwerpen kam die Frau von Goldberg angereist. Warum und weshalb bleibt ein wenig im Dunkeln, denn die Leiche war vom Tatort in die Leichenhalle verbracht worden. Es gab nicht viel Zeit sich Gedanken darüber zu machen, denn Madame Goldberg rollte mit ihrem Wagen in Avrainville ein, stieg aus dem Auto aus, ein Schuss knallte und schon war sie ihrem Mann in die ewigen Jagdgründe gefolgt.
Es wird versucht, zu ermitteln, wer geschossen hat. Der Täter wird bei der Gelegenheit nicht gestellt. Die Motive liegen wie schon beim Mord des Ehemanns im Dunkeln. Da sind ein Mann und seine Frau an der Kreuzung der drei Witwen umgebracht worden und keiner hat einen Grund. Der Versicherungsvertreter nicht, der ja nicht sein nagelneues Auto für solch eine Schandtat opfern würde; der Däne nicht, der nur seine Ruhe haben will und der Tankstellenbesitzer, der so fremde Leute wie den Mann aus Antwerpen gar nicht kennt.
Am nächsten Tag geht es hoch her. Carl Andersen fährt nach Paris, Emile Michonnet belagert Maigret, weil er sein Auto zurück haben möchte oder zumindest einen Ersatz und Maigret lernt Monsieur Oscar kennen, der die Werkstatt an der Nationalstraße betreibt. Er gibt sich sehr leutselig und hält mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. Von Michonnet hält er nicht viel, von Andersen noch viel weniger. Monsieur Oscar verschweigt aber auch nicht, dass er kein Kind von Traurigkeit ist.
Richtig Fahrt nimmt die Geschichte auf, als man mitbekommt, dass Carl Andersen nicht sein Pariser Ziel erreicht hat. Maigret nimmt an, dass er die Flucht ergriffen hat. Dies wird auch noch erhärtet, als Andersens Auto in Jeumont, kurz vor der belgischen Grenze, gefunden wird.
Maigret plagt aber noch ein Problem, dass er von Anfang an hatte: Der Fall wirkt unrund. Denn er kann bei Andersen kein Motiv finden, Goldberg umzubringen. Dagegen sind die Leute, die zu Andersens Kosmos gehören, Maigret viel suspekter. Das fängt mit dem direkten Nachbarn Michonnet an und ein halbseidener Typ wie Monsieur Oscar trägt auch nicht zu vertrauensbildenden Ermittlung mit bei.
Ganz zu schweigen von Else, die Maigret anfangs ein komplettes Rätsel ist. Sie lebt in ihrem Zimmer und erzählt Maigret, dass ihr Bruder sie immer einschließen würde, wenn er wegfährt. Sie scheint zu selbstbewusst zu sein, um sich das Gefallen zu lassen.
»Maigrets Nacht an der Kreuzung« ist einer der ganz frühen Maigrets von Simenon. Hier gibt es ständig Schießereien, damit verbunden auch Tote und viel Action. Nicht immer scheint die Geschichte ganz rund sein. Ein Beispiel ist dafür das Alter von Madame Michonnet, die innerhalb der Geschichte plötzlich um zehn Jahre altert. Ich habe auch nicht nachvollziehen können, welche Waffen wann eingesetzt worden sind und wie die Schießenden an sie herangekommen sind.
Trotz dieser kleinen Unzulänglichkeiten gibt es von mir für diesen Maigret eine ganz klare Leseempfehlung. Der Roman punktet mit einer interessanten Ausgangsidee, starken Charakteren und einem Maigret, der im Laufe der Geschichte immer stärker wird und schließlich die Oberhand über eine Bande von Verbrechern gewinnt.