Bildnachweis: François Richard-Lenoir - Public Domain
Der Macher
Will ich ein wenig Spaß haben und ist keine Sitcom zur Hand, dann hilft es auch, ChatGPT interessante, aber ein wenig abwegige Fragen zu stellen. Beispielsweise die, warum in Frankreich Straßennamen, die nach Personen benannt sind, sehr oft ohne Vornamen anzutreffen sind. Der erste Grund, führt das Programm aus, könnte es sein, dass man die Privatsphäre schützen möchte.
Die meisten Menschen werden die Tatsache, dass ihr Name eine Straße ziert, nicht zu ihren Lebzeiten erleben. Üblicherweise werden Personen ausgewählt, die entweder auf internationaler, nationaler oder auch sehr regionaler Ebene eine gewisse Popularität erlangt haben. Und deren Vorname wird dann auf dieser bekannt sein. Warum da noch die Privatsphäre geschützt werden muss, könnte das Geheimnis von ChatGPT bleiben. Könnte. Ich jedoch musste noch mal nachfragen. Als Technikfreund und -nutzer muss ich sagen, dass mich die Antwort nicht beglückte. Sie waren Schwachsinn und passten nicht zum Sachverhalt.
An der Stelle bleibt festzuhalten: Wenn ich das nächste Mal einen Franzosen treffe, werde ich ihn fragen. (Obwohl ich vermute, dass die Antwort ähnlich unbefriedigend sein wird wie die von ChatGPT.)
Eine Abdeckung
Warum mir das in den Sinn kam? Ich hatte mich gefragt, was es denn mit dem Namen »Richard-Lenoir« auf sich hat. Die Verblüffung über diese Frage überkam mich sofort. Schließlich bin ich ein paar Jahre an diesem Maigret-Thema dran. Ich war schon in der Straße und habe mir das Haus angeschaut, dass dazu erkoren wurde, das Wohnhaus Maigrets zu sein. Ein Haus, das zwar da ist, aber gar nicht das Zuhause sein kann. Ja, ich gestehe, ich habe es mehr als einmal angeschaut und mich nie gefragt: »Wer ist denn diese oder dieser Richard-Lenoir?« Oder sind es mehrere.
Nehmen wir beispielsweise die »Rue René-Boulanger« – geehrt werden soll damit René Boulanger. Bei der Avenue René-Coty wird der gleichnamige Politiker gewürdigt. Dann kommt beispielsweise der Boulevard Raspail – der ist François-Vincent Raspail gewidmet. Ist es jetzt so, dass als Boulevard klassifizierte Straßen nach Personen benannt werden dürfen, aber die Vornamen immer weggelassen werden? Was hat es dann aber mit dann mit dem Richard-Lenoir und seinem Boulevard auf sich? Ist Richard der Vorname des Geehrten? Was ist mit den Regeln?
Fragen …
Was für chaotische Gedankenspiele! Zur Ehrenrettung der französischen Straßennamen-Beauftragten von gestern und heute: In Deutschland wird es nicht viel anders sein. Mir ist's nur noch nicht aufgefallen.
Die Geschichte des Canal Saint-Martin wurde auf diesen Seiten schon ausführlich geschildert. Dieser Kanal war sowohl für den Verkehr sehr interessant wie auch für die hygienischen Verhältnisse in der Stadt.
Ein negativer Aspekt dieser 1826 fertiggestellten Wasserstraße war jedoch, dass sie bei der Verteidigung der Stadt – egal ob jetzt innere oder äußere Feinde – sehr hinderlich sein konnte. Das bekamen die Regierenden bei der Revolution von 1848 zu spüren, weshalb im Jahr darauf beschlossen wurde: Der Kanal braucht eine Abdeckung!
Zwischen Beschluss und Realisierung lagen etwa zehn Jahre und die Arbeiten daran waren nach 1860 abgeschlossen. Mit den Arbeiten wurde auch ein verkehrstechnisches Problem gelöst: So ließ sich leichter die Querung des Boulevard Voltaire realisieren, der in den Jahren neu gebaut worden war.
Karriere
Épinay-sur-Odon ist eine kleine Gemeinde im Calvados. »Klein« meint wirklich klein – knapp über sechshundert Einwohner zählt der Ort und darf ohne Zweifel als Dorf bezeichnet werden. In dieser Gemeinde wurde am 16. April 1765 François Richard als Sohn eines Bauern geboren. Damals hatten die Épinayer ein Drittel mehr Bewohner, was an dem Status des Ortes aber nichts geändert haben dürfte – es war auch nur ein Dorf.
Richard war das wohl zu klein und er sparte Geld zusammen, um in die weite Welt zu zeihen. Also Rouen. Zu Fuß. Caen lag um die Ecke, aber die Stadt hatte nicht die richtige Größe für den jungen Mann. Da muss man dann schon mal 150 Kilometer laufen.
Dort wollte er in die Dienste eines Händlers treten, um das Geschäft zu lernen. Aber er wurde nur als Diener angestellt, was den Richard nicht befriedigte. Wie man ein Geschäft führt, das lernte er bei seinem Arbeitgeber nicht, weshalb er nach einem Jahr das Handtuch in Rouen schmiss und sich auf den Weg nach Paris machte. Er fing an zu spekulieren, unter anderem mit Textilien, und kam zu einigem Geld.
Der Weg zum Erfolg ist oft steinig und so verlor er 1789 alles, was er hatte, und kam zudem ins Gefängnis, weil er eine Schuld nicht begleichen. Wie er während seines Knast-Aufenthaltes an Geld kommen konnte, ist ein wenig schleierhaft – aber nach seiner Entlassung durch Ausbruch konnte er die Verbindlichkeiten bezahlen und konnte ein Anwesen in Nemours erwerben – das ist ein bisschen von Paris weg, jedoch nicht zuweist. Aber das musste in der damaligen Zeit – Französische Revolution – kein Nachteil gewesen sein.
Alle Welt war damals verrückt nach einem Stoff namens Bazin. Dieses Gewebe aus Baumwolle stammte ursprünglich aus Afrika und wurde in England hergestellt. Die Hersteller auf der Insel hüteten das Geheimnis der Produktion der Textilie hergestellt wird. Wie es so ist: Solche Schätze wollen gelüftet werden und ein eifriger Forscher in der Angelegenheit war Richard. Durch Zufall kam er hinter die Herstellung.
Er hatte sich zuvor mit einem Herren namens Joseph Lenoir-Dufresne geschäftlich zusammengetan. Gemeinsam fingen sie an den Stoff in Frankreich zu produzieren. Der Mann aus Normandie war nicht nur findig, er war auch forsch. Er hatte um die Genehmigung gebeten, in einem verlassenen Kloster produzieren zu dürfen, da er keine passenden Produktionsorte fand. Wer heute auf die Behörden schimpft, weil sie langsam und träge sind, sollte sich vor Augen halten, dass dies Tradition hatte. Auch Richard und sein Geschäftspartner mussten lange warten, bis ihnen der Geduldsfaden riss – eine hübsche Metapher im Textilgeschäft – und er mit Arbeiterinnen das Kloster besetzte und eine Fabrik aufbaute.
Produziert wurde mit englischen Maschinen im großen Stil. Zahlreiche Fabriken außerhalb von Paris entstanden, da nicht nur Platz ein Problem war, sondern auch Personal.
Das war die Zeit, in der Richard am erfolgreichsten war. Er bekam von Napoléon persönlich eine Auszeichnung für seine Findigkeit und seine Erfolge. Er galt als der reichste Mann des 19. Jahrhunderts – zumindest in Frankreich. Und der Napoléon hatte an diesem Erfolg auch einen gewissen Einfluss. Durch die Kontinentalsperre wurde verhindert, dass englische Stoffe es nach Frankreich schafften. Weniger Konkurrenz, mehr Profit – Richard wird sich nicht beklagt haben.
1806 starb sein Geschäftspartner Lenoir-Dufresne, der drei Jahre jünger war, im Alter von 37. Der hatte eine ungewöhnliche Bitte: Er wollte nicht, dass sein Name in der Partnerschaft vergessen wird und bat Richard darum, dass er den ersten Teil seines Nachnamens annahm. Wie man dem Namen des Boulevards entnehmen kann, erfüllte der Sohn eines Bauern seinem Freund diesen Wunsch – er wurde François Richard-Lenoir.
Abgesang
Nun mochte Napoléon Richard-Lenoir als Unternehmer geschätzt haben, aber ihre Interessen waren nicht die gleichen. Diese Differenzen sorgten für den Niedergang der Unternehmungen von Richard-Lenoir.
Der hatte sich in den Kopf gesetzt, die Transportwege der Baumwolle zu verkürzen, indem man sie in Europa anbaut. Dafür ließ er Pflanzungen in Neapel anlegen. Schon 1808 konnte er über 50.000 Ballen nach Frankreich importieren. Seinem Staatsoberhaupt entzückte die Idee eines Anbaus auch, aber er wollte die Pflanzungen im Süden Frankreichs haben. Durch Zölle wurde die Einfuhr verteuert, dass sie nicht mehr rentabel waren.
Er geriet in finanzielle Schwierigkeiten und musste Kredite aufnehmen.
Nun kam hinzu, dass Napoléon in Europa unterwegs war und sich Länder einverleibte. Die Niederlande gehörten bald zu Frankreich und auf diesem Weg kamen große Mengen des Stoffes, den bisher Richard-Lenoir in seinen Fabriken produziert hat, aus britischen Quellen auf den Markt. Das drückte die Preise und der Unternehmer fand keine Abnehmer für seine Produkte. Wiederum fehlte Geld und bei der Marktlage wollte keiner ein Risiko mit einem Unternehmen dieser Branche eingehen.
Als die Geschäfte 1813 zum Erliegen kamen, bezahlte er Lebensmittel für seine Arbeiter. Bei 20.000 in seinen Diensten stehenden Menschen heißt das schon was.
Napoléon verschwand dann erst einmal für ein Weilchen …
Den unternehmerischen Todesstoß brachte ihm eine Verordnung vom April 1814 ein. Die Regelungen der Kontinentalsperre wurden auf Drängen Englands, das sich nach dem Niedergang Napoléons in einer guten und starken Position befand, aufgehoben. Was dieses Dekret umfasste konnte ich nicht ermitteln, vielleicht waren es Zölle, vielleicht auch aufgehobene Einfuhrbeschränkungen. Die Konsequenz war, dass Richard-Lenoir von einem zum anderen Tag komplett pleite war. Er hatte drauf gesetzt, dass die Beschränkungen weiterhin gelten würden und hatte sich damit verspekuliert. Um einen Teil seiner Verbindlichkeiten zu decken, musste er all seine Besitztümer veräußern. Übrigens traf es nicht nur Richard-Lenoir, auch andere Unternehmer waren betroffen – aber er dürfte einer der größten gewesen sein.
Seine Tochter Eléonore verheiratete sich zwei Monate nach diesem Drama mit Zénon Lefebvre Desnouettes (dessen Bruder war ein bekannter General unter Napoléon). Das erscheint nicht wie der passende Zeitpunkt für eine Vermählung, aber für den Brautvater konnte es als kleine Erleichterung angesehen werden. Der Schwiegersohn setzte ihm eine Pension aus, die ihm vor dem Hunger bewahrte.
Ein Pariser Kaufmann sorgte in den Jahren nach der wirtschaftlichen Katastrophe für eine Unterkunft im Viertel Faubourg Saint-Antoine, welches der Mann mit seinen Fabriken lange Zeit vorangebracht hat. Später beteiligten sich, somit man alten Schriften glauben darf, auch andere Geschäftsleute aus der Paris an dieser Unterstützung.
Sein Wirken wurde von der Politik und Gesellschaft honoriert. Aber seinen wirtschaftlichen Niedergang, der einer gesamten Branche, konnte das nicht ausgleichen.
Zu Wohlstand brachte es Richard-Lenoir nicht mehr. Am 18. Oktober 1839 starb er im Alter von 74 Jahren. Seinem Sarg folgen 2.000 Arbeiter – was von Sympathie für diesen Industriellen zeugte, der sein Lebtag großzügig gewesen war.
Nicht schwierig
Meine erste Neugierde konnte die französische Wikipedia befriedigen. Aber ein kleines »Loch« blieb bestehen: Wie hieß die Straße nach der Entstehung? In dem Lexikon-Artikel stand, dass der Boulevard im Jahr 1875 nach dem Industriellen benannt wurde. Die Lücke musste Spuren hinterlassen, schließlich hieß die Straße ja nicht »Rue avec couverture«.
Wird eine Straße umbenannt, hinterlässt das üblicherweise Spuren in der Presse. Die hätte ich ich im Jahr der Umbenennung erwartet oder im Vorjahr. Aber schon in den Jahren zuvor wurde der Boulevard Richard-Lenoir erwähnt. Nachdem ich die Jahrgänge bis 1871 geprüft hatte, kam mir die Idee, das Pferd von der anderen Seite aufzuzäumen: Also schaute ich vom Jahr der Eröffnung an und siehe da: Im Dezember 1862 überschlagen sich die Zeitungen mit Meldungen darüber, dass der Boulevard Richard-Lenoir heißen soll. Verbunden waren die Meldungen in vielen Fällen mit einer Rekapitulation des Lebens von François Richard-Lenoir.
Die Würdigung galt ihm … und seinem Freund Joseph Lenoir-Dufresne. Ganz schön geschickt, was die beiden da am Sterbebett ausheckten. Zwei Straßennamen hätten sie wahrscheinlich nicht bekommen, auch wenn sie es verdient hätten.