Julien

Das blaue Zimmer


Eine Frau und ein Mann nach dem Sex in einem Hotelzimmer. Sie liegt. Er steht vor einem Spiegel und betrachtet sich. Ein beiläufiges Gespräch für ihn, für sie nicht. Der Mann blickt aus dem Fenster und sieht, dass der Ehemann seiner Zimmergenossin auf das Hotel zusteuert und das ist der Moment, wo er in Panik verfällt. Allerdings nicht der Moment, in dem sein Leben aus den Fugen gerät – das geschah Monate früher.

Etwa neun Monate später sieht die Welt ganz anders aus: Beide sitzen im Gefängnis und werden verhört. Diem heißt der Untersuchungsrichter. Es geht um die Affäre der beiden, wie sie zueinander gefunden haben und was sie aus der Beziehung gemacht haben. Schnell merkt man, dass der Mann keinen Plan hatte, was zwischen ihm und der Frau wirklich losging. Im Großen und Ganzen ist er ehrlich. Aber da wo er nicht ehrlich war, realisierte er nicht mit, dass ihm seine Lügen nichts nützten und der Untersuchungsrichter ihm schon einen Schritt voraus war. Denn seine Gespielin war viel offener. Den Plot findet man hier, hier geht es nun um die Unterschiede zwischen den Geschichten.

[Wer das Buch noch nicht gelesen hat oder den Film noch nicht gesehen hat, könnte im Folgenden ein wenig zu viel erfahren …]

Die Herkunft

Im Film ist Esther Despierre die Frau im Hotelzimmer. Sie war Apothekerin in einem kleinen Ort und arbeitete mit ihrem Mann Nicolas und ihrer Schwiegermutter. Der Mann war kränklich. Die Schwiegermutter war nie glücklich gewesen mit der Ehe.

Im Buch bekommt man ein ausführlicheres Bild: Esther hieß hier Andrée und stammte aus einer Arztfamilie aus bürgerlichem Milieu, die bessere Zeiten gesehen hatte. Die Familie war hoch angesehen, was daran lag, dass der Vater sich als Widerstandskämpfer Verdienste erworben hatte. Man wohnte noch in einem Schloss, aber dafür musste man an anderer Stelle ordentlich knapsen, zum Beispiel beim Essen. Die Familie Despierre dagegen hatte das Geschäft am Ort und alle Welt kaufte bei ihr ein. Man mochte die alte Despierre nicht, weil sie als geizig galt, und der Sohn war den Leuten suspekt, weil er unter Epilepsie war.

Die Ehe zwischen Nicolas und Andrée war von den Müttern arrangiert worden und von Liebe konnte nicht die Rede sein.

Auf der anderen Seite hat man im Film Julien Gahyde, der im Buch Tony Falcone heißt. Man nimmt im Film einen wesentlichen Aspekt des Hauptdarstellers weg: seine italienische Abstimmung. Der Vater, der aus Italien eingewandert war, spielt somit genauso wenig eine Rolle, wie die Tatsache, dass der Tony ein Außenseiter war. Einer, der sich angepasst hat; einer, der auch erfolgreich war, aber immer noch ein Fremder. Hinzu kommt, dass er in dem Ort geboren war, dann aber viele Jahre an anderen Orten gelebt hatte. Wenn man so will, ein Fremder, der wegzog und dann mit einer Fremden als Ehefrau wieder zurückkam.

Hier wie da hat der Mann mit dem Verkauf und der Reparatur von Landmaschinen zu tun.

Nicolas, der Ehemann der Frau, starb. Ein paar Monate später dann die Ehefrau des Mannes. Als Julien im Film nach Hause kommt, wird er von unfreundlichen Polizisten in Empfang genommen. Als Tony nach Hause kommt, wird er von einer wütenden Menge in Empfang genommen und dann von Polizisten, die sich fremdenfeindlich gebärden (»Dreckiger Italiener!«). Warum hat man eigentlich aus dem Italiener einen Franzosen gemacht? Solche Fragen stelle ich mir immer, wenn ich denke, dass eine Geschichte und Umgebung einer schon erzählten Geschichte ganz gut funktioniert. Warum muss man daran rumspielen? Besser gemacht wird damit nichts. Den einzigen Effekt, den ich erkennen kann, ist, dass man das Publikum durch die Herausnehme des Konflikts »Einheimische/Fremder« schont – zumindest das französische.

Das Männerbild

Ich bin beim Ansehen des Films nicht so sehr über die Aussagen von Julien gestolpert, wie über die von Tony in dem Buch. Diese lassen sich gut mit den Worten zusammenfassen: »Eigentlich geht doch jeder Mann fremd, nur ganz wenige nicht.« Simenon hat das durchaus auch in anderen Büchern thematisiert – ich habe damit jedes Mal ein logisches Problem: Denn entweder heißt das, dass sich ganz viele Männer wenige untreue Frauen teilen müssen. Oder es heißt, dass die Frauen genauso wenig treu sind. Aber man mir ist nicht bekannt, dass die Behauptung, dass die ja auch alle fremd gehen würden, aufgestellt würde. Weder heute, noch in der Vergangenheit – so scheint es, das wäre ein Privileg von Männern.

Dafür gibt es interessanter Weise auch Zahlen (hier), die allerdings unbelegt sind, meinen Eindruck aber bestätigen. Demnach sagen 67% der italienischen Männer, sie hätten außereheliche Affären, realistisch wären es aber »nur« 25%, die wirklich fremd gingen.

Interessant ist auch eine Anmerkung von Tony im Buch, dass er in den Laden von Andrée gekommen wäre, da er den Auftrag hatte, etwas zu besorgen. Er wäre, obwohl einige Frauen aus dem Ort da waren, sofort bedient worden. Das wäre üblich: Männer würden immer zuerst bedient. Simenon hat das Buch in den Sechzigern geschrieben, das ist jetzt gerade mal fünfzig Jahre her, und ich stelle mir vor, was los wäre, wenn ich mich im Supermarkt an der Kasse mit den Worten vordrängeln würde, meine Zeit wäre definitiv wertvoller.

Die Schuld

Im Film wird nicht so deutlich, kann man sich noch vorstellen, dass die Partner in den beiden Ehen sich mal geliebt haben. Im Buch kann man das für die Ehe von Andrée und Nicolas ausschließen und für die Ehe zwischen Tony und seiner Frau ist es nicht sehr wahrscheinlich.

Aber damals wie heute hatte ich beim Lesen das Gefühl, dass Tony seine Frau nicht umgebracht hat. Er ist ein Opfer der Umstände oder – besser – ein Opfer der Affäre und wirkt wie einer stiller, staunender Beobachter.

Im Film gab es jedoch eine Szene, bei der die Familie Urlaub am Meer macht und Julien seine Ehefrau immer wieder untertaucht – irgendwie aggressiv und wie ein Versuch wirkend, ob er es nicht mal probieren wollte. Aber vielleicht war das auch eine der Spielereien, bei der Jungen/Männer nicht den richtigen Punkt zum Ausstieg finden, während Mädchen/Frauen schon lang genug haben? Die Frage, ob er seine Frau umgebracht hat, lässt sich im Film viel weniger leicht verneinen.

Im Buch findet die Polizei in einem Schuppen von Tony das Gift, mit dem die Ehefrau ums Leben kam. Im Film fragt man sich, bei welcher Gelegenheit er das Pflaumenmus/Marmelade vergiftet haben soll.

Eine heiße Kandidaten für den Mordanschlang auf Tonys/Juliens Frau wäre für mich die Schwiegermutter von Andrée/Esther. Es ist aber ein Krimi, es geht nicht um Schuld.

Kleines Fazit

​Ich mag das Buch sehr. Der Roman gehört zu den Geschichten jenseits von Maigret, die ich zuerst las. Die Sprünge zwischen der Gegenwart des Buches und der Vergangenheit funktionieren in der literarischen Vorlage sehr gut. Im Film weniger. Konnte ich im Roman die Verzweiflung von Tony greifen, nahm mich die Figur des Julien nicht so sehr gefangen. Julien ist eine graue Maus, womit er seiner Ehefrau sehr ähnelte, und es war mir völlig unklar, wie dieser langweilige Typ eine Affäre anfangen konnte.

Der Film ist zwar nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte; aber weit davon entfernt, dass ich mich für ihn begeistern konnte. Hätten wir es nicht mit einer Simenon-Verfilmung zu tun, wäre ich mir nicht einmal sicher, ob ich ihn mir bis zum Ende angesehen hätte. Wäre ich Lehrer, würde ich ihm eine 4 geben.