Zeitstrahl der Mehrsprachigkeit

Das Englisch des Kommissars


Der Umgang mit Fremdsprachen ist wohl mit das Komplizierteste, was man darstellen kann. Ein plastisches Beispiel: Auf dem Raumschiff »Enterprise« sprechen in der Synchronisierung alle Deutsch. Mit Ausnahme der Klingonen. Aber alle anderen Spezies sprechen ohne irgendwelche Akzente unsere Sprache. Angenehm für uns, aber irgendwie unwahrscheinlich. Vor dem gleichen Problem stand auch Simenon.

​Bei der Durchsicht von »Maigret und die Keller des Majestic« wird betont, dass Maigret kein Wort Englisch sprechen würde. Ein Teil der Konflikte, teilweise von Maigret provoziert, beruht darauf, dass sich die Herrschaften nicht verständigen können. Sie verstehen einander nicht, weil sie zum einen auf unterschiedlichen Seiten stehen, aber auch unterschiedlichen Kulturen entstammen und nicht die gleiche Sprache sprechen.

»Sind Sie es, Herr Kommissar? … Hm … äh … Sie sprechen kein Englisch, nicht wahr? … Hallo! Nicht die Verbindung unterbrechen … Das dachte ich mir doch … [...]«

​Ich las es und dachte mir, komisch, dass es den Kommissar dann später nach England und in die USA gezogen hat. Irgendwann muss er ja Englisch gelernt haben.

Maigret in New York

​Aber wann war dieses »irgendwann«? Schließlich hat man nicht den Eindruck, dass so ein beschäftigter Mann wie Jules Maigret die Zeit hat, die Abendschule zu besuchen und die Muße, sich abends hinzusetzen und noch eine Fremdsprache zu lernen. Aber Simenon schafft es mit einem Griff in die Wundertüte der Schriftstellers, zu erklären, warum Maigret plötzlich in New York angekommen, Sätze wie

»Sie an, da heißt einer genauso wie der berühmte Pariser Kommissar.«

​versteht. Die Erklärung erfolgt auf dem Fuße:

(Allerdings stammten Maigrets Englisch-Kenntnisse noch aus dem Gymnasium.)

​Was durchaus erklärlich wäre. Dann hätte er seine Rolle als Nicht-Versteher in dem Majestic-Fall außerordentlich gut gespielt (eine raffinierte Finte, die uns der Erzähler aber verschwiegen hat – kein guter Stil!). Schließlich ließ er sich auch simple Worte übersetzen, wie im Verhör von Clark:

»Well! … Well! …«
Und Maigret fragte den Dolmetscher ganz leise.
»Was sagt er?«
»So! … So! …«

​Also gibt uns Simenon eine Erklärung, warum Maigret plötzlich der englischen Sprache mächtig ist. Aber wirklich plausibel ist es nicht, schließlich befindet sich Maigret in New York schon im Ruhestand und ist damit definitiv älter als im Majestic-Fall.

Mein Freund Maigret

Der Roman, der auf Porquerolles spielt, entstand im Februar 1949. Maigret hatte in der Zeit einen Hospitanten von Scotland Yard bei sich, der ihm überall hin folgte. Aus »Maigret in Arizona« wissen wir, dass dieser Fall auf der Insel im Maigret-Universum vor dem Arizona-Ausflug lag, denn es heißt

Hatte er nicht automatisch ähnlich gehandelt, als er vor zwei Jahren den Auftrag erhalten hatte, für seinen Kollegen von Scotland Yard, Mister Pyke, den Lotsen zu spielen?

Mister Pyke ist derjenige, der sich angepasst hat, und warum sollte man auch jemanden ohne Übersetzer nach Paris schicken, der von der Sprache keine Ahnung hat? Schließlich sollte der Inspektor am Arbeitsleben von Maigret und damit seiner Kommunikation mit Vorgesetzten, Kollegen, Mitarbeitern, Verdächtigen und Zeugen teilhaben!

Es war schwierig, wenn nicht unmöglich, das herauszufinden. Sein Französisch war vollkommen, allzu vollkommen, und dennoch sprachen die beiden Männer nicht dieselbe Sprache.

Es war also sehr bequem für Maigret, sich mit dem Inspektor zu verständigen. Die Schwierigkeiten Maigrets, Pyke zu verstehen, resultieren aus Pykes Betrachtung der Dinge und seiner Art zu kommunizieren. Jeder Mensch schleppt ein kulturelles Päckchen mit sich herum und die Art, sich auszudrücken, gehört mit dazu.

Mir ist nur eine Stelle aufgefallen, in der erwähnt wird, dass Pyke auf seine Muttersprache zurückfällt.

Wir sind also geschickt aus der Nummer raus. Später ihn »Maigret und sein Revolver« hat Maigret nochmals Pyke an seiner Seite, auch wenn Maigret diesmal der Ausländer ist.

Maigret in Arizona

Zwei Jahre später lässt Simenon seinen Kommissar nach Arizona reisen (in Wirklichkeit waren es nur ein paar Monate [Februar – Juli]). Da sieht die Situation nun wiederum anders aus. Maigret ist definitiv auf Fremdsprachen-Kenntnisse angewiesen. Maigret spricht nicht nur mit dem Kollegen von FBI, die vielleicht noch ausgesucht worden sind, den französischen Gast zu begleiten und zu betreuen, sondern er bekommt es mit einem waschechten Fall für eine Jury zu tun – wir können mit hundertprozentiger Gewissheit davon ausgehen, dass der Fall für den Pariser Gast nicht in Französisch verhandelt wurde – und er unterhält sich auch mit Zeugen und Beteiligten des Falles.

Das Vokabular ist nicht hochtrabend, das kann man nicht sagen. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass jemand – der nicht oft durch die Fremdsprache gefordert ist – die Übersetzungen von »Zentrifugalkraft«, »Besserungsanstalt« und »Latrine« in Petto hat?

Wir müssen also einfach davon ausgehen, dass es so ist, wie es ist: Maigret kann plötzlich Englisch und das auch noch sehr gut. Sehr beneidenswert!

Maigret, Lognon und die Gangster

​In diesem Fall, der in Paris spielt, wird Maigret mit Gangstern konfrontiert, die importiert worden sind. Drei amerikanische Gauner machen die Stadt unsicher und haben sich dabei den bemitleidenswerten Lognon noch als Opfer auserkoren, weil er ihnen in die Quere kam. Informationen über die Gangster bekommt Maigret bei seinen Kollegen vom FBI. Hier wird schnell klar, dass es Maigret ist, der Englisch spricht.

»[...] Verstehen Sie das Wort Sloppy?«
Maigret verstand es, doch er hätte Mühe gehabt, es genau zu übersetzen [...]

​Aber wie sich genau verständigt wird, wird selten gesagt. Es wird – wie bei Star Trek – einfach davon ausgegangen, dass der Leser sich seinen Teil denkt (oder auch nicht) und sich von den kleinen Fallstricken des internationalen Miteinanders nicht ablenken lässt.

Maigret auf Reisen

​1957 gab es das Thema »Englisch« noch einmal. Im berühmten Hotel »George V.« kam der reiche David Ward ums Leben. Man fand ihn tot in der Badewanne seines Zimmers. Vermutlich hatte er vorher noch ordentlich mit einer Gräfin, mit der er verhandelt war, gezecht. Diese hatte in der gleichen Nacht versucht, sich das Leben zu nehmen. Im Hotel war auch ein Freund von Ward untergebracht, John T. Arnold – wie  Ward ein Englisch-Sprecher, nur noch am Leben.

Maigret war schon vor Ort und unterhielt sich mit dem Hoteldirektor und dem Arzt, als Ward hinzukam und seinen toten Freund erblickte. 

»[...] Was ist David denn zugestoßen? Wo ist er?«
»Es tut mir leid, Monsieur Arnold...«
Er zeigte Richtung Badezimmer, dann begann er, wie selbstverständlich, englisch zu sprechen:
»Wie haben Sie davon erfahren?«
»Ich habe heute Morgen fünfmal angerufen«, antwortete Monsieur Arnold, ebenfalls auf englisch.
Das war ein Detail, über das sich Maigret nur noch mehr ärgerte. Er verstand zwar leidlich Englisch, aber er war weit davon entfernt, es fließend zu sprechen. Der Arzt wechselte indes ebenfalls ins Englische über.

Es ist schon amüsant, dass hier Maigret wieder leidlich Englisch spricht – nachdem er doch von Simenon schon nach London, New York und nach Arizona geschickt worden ist. Wo er so gut über die Runden kam, dass er auch Leute verhört hat. Die müssten eine Mordsgeduld gehabt haben, wenn das Englisch des Kommissars wirklich »leidlich« gewesen war und als Zeugen oder gar als Verdächtige wären dabei immer das Risiko eingegangen, von dem Polizisten missverstanden zu werden. Auch keine besonders schöne Aussicht.

Maigret und die junge Tote

Ziemlich zum Ende hin, erweist sich, dass Julius van Cram eine Verbindung in die Vereinigten Staaten hat. Nachdem Maigret erfahren hat, dass der Amerikaner Jimmy O’Malley auf der Suche nach Louise Laboine gewesen war, zieht er Erkundigungen bei dem Mann über das FBI ein. Er ruft dafür Inspektor Clark an, der sich auch zurückmeldet:

Wie immer lief das Gespräch mit Clark halb in Maigrets schlechtem Englisch, halb im schlechten Französisch des Amerikaners ab, wobei sich jeder tapfer bemühte, die Sprache des anderen zu sprechen.

Die Internationalität

Weil es mich interessierte, habe ich gerade mal nachgeschaut: Kaum war Simenon in der Schweiz, war Maigret auch in der Schweiz. Vorher hatte es ihn, wenn ich es mir recht überlege, nie in die Schweiz verschlagen.

So ähnlich ist es auch mit den Fällen, die Maigret in Zusammenarbeit mit Engländern und Amerikanern zu lösen: Sie entstanden alle, nachdem Simenon nach Kanada gegangen war und später dann in die USA. Nachdem er Nordamerika verlassen hat, wurde der Kontinent, seine Bewohner wieder uninteressant für ihn. Das wiederum gilt nicht nur für die Maigrets, sondern man kann das auch an dem Nicht-Maigret-Werk nachvollziehen. Der erste Roman, der in Amerika spielt, ist »Drei Zimmer in Manhattan« von 1946. Der letzte Roman, der einen Bezug zu Amerika hat, stammt aus dem Jahr 1955 (»Die schwarze Kugel«).

​Nachträge

Ein Roman ist mir abgegangen: »Maigret und der Treidler der Providence«. Auch hier kommt Maigret in Kontakt mit Engländern und er spricht gut Englisch. Das war immerhin schon 1931 gewesen und macht mir meine schöne Grafik kaputt. Was für ein Jammer!

Der Dickere drehte den Kopf und sagte auf Englisch:
»Sag ihm, dass ihn das nichts angeht!«
Maigret tat so, als hätte er nicht verstanden, und zog, ohne ein Wort zu sagen, aus seiner Brieftasche das Foto der Leiche und legte es auf das braune Wachstuch.

So bleibt nur noch die Häufung von Engländern, Amerikanern und ihren Geschichten nach dem Umzug nach Kanada bzw. in die USA – und ihr Verschwinden.

(7.2.2020) Ein weiterer Hinweis erreichte mich über Twitter: In »Mein Freund Maigret« wird erwähnt, dass Mister Pyke sehr gut Französisch spricht. Die Stelle habe ich korrigiert.

(8.2.2020) »Maigret auf Reisen« als weitere Referenz des Englisch-Sprechens hinzugefügt.

(26.11.2021) »Maigret und die junge Tote« als weitere Referenz hinzugefügt.