Das gedruckte Wort


Wenn es ein Wort gibt, das ich so gar nicht mag, dann ist das »Simenon-Fan«. Es liegt daran, dass ich das Wort »Fan« mit einer unkritischem, sehr einseitigen Beziehung verbinde. Meine Beziehung zu Simenon ist in jeder Hinsicht einseitig, was gewiss auch daran liegt, dass der Herr seit nunmehr fast dreißig Jahren tot ist. Aber unkritisch ist sie in keinem Fall: Sein moralischer Kompass scheint mir oft arg verpeilt gewesen zu sein.

Also werde ich mich nicht hinstellen und Texte von ihm in den Himmel jubeln, nur weil sie von ihm sind. Wenn ich sie schlecht finde, dann werde ich das sagen. Selbstverständlich scheue ich mich auch nicht, den Finger in gewisse »biographische« Wunden zu stecken, nachzulesen beispielsweise in meinen Anmerkungen zu den »Intimen Memoiren«.

Hässliche Seiten

Am 23. Januar 2014 erschien in der »Jüdischen Allgemeinen« einen Artikel von Norman Lebrecht mit dem Titel »Maigret und die Juden«, einem britischen Journalisten. Dieser erschien in einer Variante sechs Wochen zuvor, am 1. Dezember 2013, in »The Jewish Chronicle« unter dem Titel »Detecting a nasty side to Maigret«. Einige Vorwürfe, die in der deutschen Ausgabe zu lesen sind, sind in der englischen Variante nicht zu finden. Vielleicht hat der Autor sie in seiner deutschen Variante ergänzt, vielleicht wurde der Artikel redaktionell nachgearbeitet – ein Hinweis gibt es in dem Artikel nicht.

Nun könnte man bei dem Thema damit anfangen, dass Simenon als junger Mann ein paar sehr hässliche Artikel geschrieben hat, die antisemitischer Natur gewesen waren. Eine Artikelserie Simenons zum Judentum startete in der »Gazette de Liège« unter dem Titel »Le péril juif« (»Die jüdische Gefahr«). Simenon zog die damals üblichen Quellen wie die »Protokolle der Weisen von Zion« für seine Argumentation heran, einer Fälschung, der man sich auch heute noch gern bedient. Die Gefahr bestand für ihn zum einen im Politischen, wobei auf die große Anzahl von Juden unter sowjetischen Bolschewiken und deutschen Revolutionären verwiesen wurde, zum anderen auf die wirtschaftliche Macht von Juden mit Verweis auf den Bankensektor. Wenn man es genau nimmt, hat sich über die Jahre nichts geändert – der gleiche gefährliche Mumpitz wird heute noch verbreitet.

Simenon rechtfertigte sich später damit, dass dies Auftragsarbeiten gewesen seien und er kein Antisemit sei, weil unter den Untermietern im Haus seiner Mutter viele Juden gelebt hatten. Er wäre bestens mit ihnen ausgekommen. Simenon betont auch, dass er in seinem ganzen Leben jüdische Freunde gehabt habe. Die Argumentation trägt nicht so weit. Wie oft kommt es vor, dass ein Franz bei seinem Freund Hasan seinen Döner holt, und sich trotzdem nicht zu schade ist, laut zu verkünden, dass die ganzen unnützen Ausländer zu verschwinden hätten? Wie verrückt die Welt ist, sieht man auch daran, dass es brutale Männer gab, die in der NSDAP und SA waren und gleichzeitig homosexuell. Ich würde sagen, das passt nicht zusammen, aber irgendwie haben sich diese Menschen die Welt so gemacht, wie sie ihn gefällt. Für viele von denen ging die Geschichte nicht gut aus. In jüngere Geschichte gab es auch Parteivorsitzende, die mit ihren Lebensentwürfen überhaupt gar nicht zum Programm und zum Denken ihrer Partei passten – aber irgendwie arrangierte man sich halt.

Zurück zum eigentlich Thema: Diese Episode aus dem Leben von Simenon wird in dem Artikel aber gar nicht herausgeholt. Obwohl das ganz klar ein Elfmeter gewesen wäre.

Der Verrückte von Bergerac

Norman Lebrech startet wie folgt:

Simenon war ein fesselnder Autor von hoher literarischer Qualität. Er war auch ein waschechter Antisemit.

Um dies zu beweisen zitiert er aus »Maigret und und der Verrückte von Bergerac«:

Leute wie Samuel waren ihm zu Hunderten in Paris und anderswo begegnet, und stets hatte er sie mit einer gewissen Neugier studiert, in die sich nicht gerade Abscheu, aber doch Unbehagen mischte, als bildeten sie eine Welt für sich.

Ich würde erst einmal fragen: Wem waren Leute wie Samuel begegnet? Maigret ist es, der sich unbehaglich fühlt und der Meinung ist, dass diese Leute eine Welt für sich darstellen. Darf man aus dem, was Maigret denkt und fühlt unmittelbar auf das schließen, was Simenon denkt und fühlt. Wäre das so, dann wäre Simenon wohl der treueste aller Ehemänner gewesen, den man je gesehen hat. Aber Moment mal, das haut schon nicht hin. Maigret ist nur eine Figur. Schriftsteller lassen Figuren Sachen denken und sagen, müssen aber nicht deren Meinung sein.

Bemerkenswert finde ich aber, was in dem Text zuvor steht. Maigret bekommt einen Auszug aus dem Strafregisterauszug und kann dem entnehmen, dass Samuel kein unbelecktes Blatt ist. Er gab vor, im Briefmarkenhandel zu sein, war aber vielmehr mit dem Fälschen von Pässen befasst. In dem Absatz vor dem von Lebrech zitierten heißt es:

Und vor allem, dass man von einer rein lokalen Affäre, einem Kleinstadtverbrechen ausgehend auf die internationale Gaunerwelt stieß.

Was hat Maigret nun im Blick? Gauner oder Juden? Für mich ist beim besten Willen nicht herauszulesen, dass eine jüdische Gemeinschaft gemeint wäre. Das wird mit dem nächsten Absatz meines Erachtens noch viel deutlicher:

Individuen, die man als Barmixer in Skandinavien, als Gangster in Amerika, als Besitzer von Spielhöllen in Holland oder sonstwo, als Kellner oder Theaterdirektoren in Deutschland, als Geschäftsleute in Nordafrika antrifft…

Immer noch hätte ich an der Stelle Schwierigkeiten einen Zusammenhang zu Juden hergestellt, obwohl Samuel einer ist. Erst mit dem übernächsten Absatz kommt Simenon wieder auf die Juden zu sprechen. Dort kann man lesen:

Mittel- und Osteuropa, von Budapest bis Odessa, von Reval bis Belgrad war von Menschen überbevölkert. Hunderttausende hungernde Juden brachen jedes Jahr in alle Himmelsrichtungen auf: Scharen von Emigranten an Bord großer Schiffe, in Nachtzügen, mit Kindern auf dem Arm und alten Eltern, die man mitnahm, müde traurige Gesichter, die an den Grenzpfählen vorbeiziehen…

Wenn man will, hat man da wieder seinen Bezug zu den Juden und auch dazu, dass Maigret/Simenon das mit »Leute wie Samuel« meint. Simenon als Chronist seiner Zeit zeigt auf, dass es zu der Zeit zahllose Wirtschaftsflüchtlinge gab. Dazu gehörten auch Juden. Vielleicht findet sich die Auflösung ja in folgendem Absatz des Kapitels:

Und da greifen die Samuels ein. Die Samuels, die alle Zufluchtsorte kennen, alle Grenzbahnhöfe, alle Konsularstempel und die Unterschriften der Beamten.

Ich würde immer noch sagen, dass es hier nicht um Juden sondern um Gauner. Schon gar nicht ist der Tenor, dass alle Juden Gauner wären und »räuberisch seien«, wie es Lebrecht schreibt. Es geht darum, dass es auch unter Juden Gauner gibt.

Nicht verhehlen lässt sich, dass man in den ersten Maigret-Geschichten auf überproportional viele Osteuropäer als Verbrecher und oder Mitglieder in Verbrecher-Banden trifft.

Maigret lässt sich Zeit

Aber Simenons Antisemitismus war nachhaltiger als der anderer: Seinen letzten Seitenhieb auf die Juden teilte er noch 1965 in Maigret lässt sich Zeit aus.

Warum wird denn die Stelle, die hier kritisch sein soll, nicht benannt? Ich habe mir den Roman noch einmal vorgenommen. Erst am Ende des Buches tauchen Juden auf, nachdem Maigret herausgefunden hat, dass es in dem Fall um Diamanten geht und darum, dass diese wahrscheinlich umgeschliffen werden. Ist es der Satz?

Es ist nicht einer darunter, der es wagen würde, gestohlene oder auch nur verdächtige Steine umzuschleifen. Diese Männer haben einen Riecher dafür, das können Sie mir glauben?«

Ist das der Seitenhieb? Juden tauchen in der Geschichte in zwei Rollen auf: als Zeugen und als Opfer. Die Zeugen werden freundlich geschildert. Das Opfer scheint ein aufopferungsvoller Mensch zu sein, der sehr sympathisch ist. Wo ist also der Seitenhieb? Oder war es der Maigret-Roman, in dem zuletzt Juden auftauchten?

Ich glaube nicht, dass die Beispiele, die ich nachgelesen haben, sich dafür heranziehen lassen. Wenn Simenon schreibt, dass Jüdinnen im Alter zur Korpulenz neigen, halte ich das für ein Klischee – allerdings nicht für antisemitisch. Vielleicht bin ich auch einfach nicht sensibel und betroffen genug, um den Rassismus und Antisemitismus an diesen Stellen zu erkennen.

Kollaborateur

Der Abschnitt beginnt mit der Einleitung, dass Simenon es mit der extremen Rechten hatte. Als Beleg dafür führt er an, dass Simenon mit den Deutschen während der Zeit der Besatzung zusammenarbeitete und Verträge mit der Continental hatte und somit gut im Filmgeschäft war. Weil Simenon diese Geschäfte gemacht hat, wäre der somit ein Anhänger der Nazis gewesen? Das ist ein wahrhaft interessanter Schluss.

Das ist der zweite Beleg, den Norman Lebrecht anführt:

Und als im September 1942 dem Maigret-Darsteller Raimu vorgeworfen wurde, von der Nazibesatzung zu profitieren, verteidigte Simenon ihn in der Zeitschrift Vedette: »Rechnen die auch in Franc oder Dollar aus, was dieser oder jener Rothschild verdient hat oder dieser oder jener Hai, der an der Börse gegen den Franc spekuliert?«

Abgesehen davon, dass Raimu zwar der Hauptdarsteller in zwei Simenon-Verfilmungen war, aber sich nie als Maigret verdingt hat, schreibt Marnham (aus dessen Biographie hier zitiert wurde), dass Simenon Raimu verteidigte, weil dem vorgeworfen wurde, zuviel Geld verdient zu haben. Unbestreitbar hat man in dem Zitat ein eindeutiges antisemitsches Klischee. Das Zitat ist übrigens länger:

Veröffentlichen dieselben Zeitungen die Gehälter ihrer Besitzer? Rechnen sie den Preis der Telefongespräche in Francs oder Dollars aus, die dieser oder jener Rothschild oder dieser oder jener Finanzhai führen, wenn sie an der Börse gegen den Franc spekulieren? Nein, immer ist es der Schauspieler oder Star.

Ich bin nicht sicher, ob dies als Beleg reicht, um zu behaupten, dass Simenon der extremen Rechten zugeneigt war. Der Antisemitismus wurde von den deutschen Nationalsozialisten über Jahre auf das Schrecklichste manifestiert – Boykotte, Pogrome, Holocaust. Allerdings ist Judenfeindlichkeit nicht allein auf die Rechtsextremen beschränkt. In Deutschland vertreten 20% bis 25% der Bevölkerung antisemitische Meinungen, was sicher nichts deckungsgleich mit dem rechtsextremen Spektrum ist. So findet sich Antisemitismus auch im linken Lager und bei der bürgerlichen Mitte.

Richtig falsch

In Frankreich verbot derweil ein Gericht Neuauflagen seiner Bücher für einen Zeitraum von fünf Jahren; seine Filme durften nicht öffentlich aufgeführt werden.

Wirklich? Drei Filme wurden zwischen 1945 und 1950 nach Vorlagen von Simenon gedreht. Das müssen ganz schön mutige Produzenten gewesen sein, wenn sie sich über ein solches gerichtliches Verbot hinweggesetzt hätten. Zumindest müssten es Hasardeure in ihrem Business gewesen sein, Filme zu drehen, die sie nicht zeigen durften. Ebenso mutig müssen demnach auch die Verlage Gallimard und Presses de la Cité gewesen sein, die in der Zeit eine stattliche Anzahl von Titeln herausbrachten.

Unterwäsche

Häufig taucht »der Jude« auf oder »die Jüdin«, seine »übergewichtige Frau«, inklusive schlüpfriger Hinweise auf »wogende Brüste« und »einen flüchtigen Blick auf die Unterwäsche«.

Es stellt sich die Frage, ob der Autor ausreichend Simenon gelesen hat. Meine Vermutung ist, dass er es nicht tat. Ansonsten wüsste er, dass die flüchtigen Blicke auf die Unterwäsche, irgendwie dazu gehören. Genauso wie entblösste Brüste, wie Blicke auf die Oberschenkel – und das Maigret das nicht nur bei Jüdinnen beobachtet, sondern bei allen Frauen. Es ließe sich ein eigenes Buch mit Szenen dieser Art füllen und ich bin mir ziemlich sicher, dass es kein dünnes Buch werden würde.

Zum Schluss

Was will ich sagen?

Der Artikel von Norman Lebrecht ist schlecht: Entweder ist er schlecht recherchiert oder wollte sich etwas zurechtzimmern. Beides nicht gut. Er scheint mir nicht gut vorbereitet an den Artikel gegangen zu sein, ansonsten wäre ihm aufgefallen, dass es für seine Thesen durchaus Belege gegeben hätte. Wie ich anfangs erwähnte.

Gar nicht groß kommentieren, will ich seine Sticker-Idee: Ich bin aber gespannt, ob wir die eigentlichen Cover auf Klassikern demnächst noch erkennen, wenn erst einmal vor Antisemitismus, Rassismus und Sexismus gewarnt wird.

Was will ich mit dem Beitrag nicht sagen?

Ich will das nicht als Freispruch Simenons von Antisemitismus verstanden wissen. Wie Lebrecht richtig schreibt: Das gedruckte Wort steht.