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Das unheimliche Haus
Der Vorspann ist vorbei und der Zuschauer sieht eine Stadt im Dunkeln. Es regnet und es ist sehr ungemütlich in dieser französischen Kleinstadt irgendwo in der Provinz. Ein Erzähler führt den Zuschauer ein und so erfährt man, dass im Hause der Familie Loursat nicht alles zum Besten steht. Das Dienstmädchen muckt auf, die Tochter des Hauses versucht diesem Kontra zu geben und der Haushaltsvorstand ist ein lethargischer Trinker.
Man sieht, wie sich Loursat ein Glas Wein einschenkt, dieses austrinkt und sich gleich wieder nachschenkt – dann ertönt, merkwürdig leise, ein Geräusch, das ein Peitschenknall sein könnte, genauso aber auch ein Schuss. Loursat reagiert sehr langsam, als müsste sein von Alkohol benebeltes Hirn das Gehörte erst einmal verarbeiten und prüfen, dann macht er sich auf den Weg, das Haus zu kontrollieren.
Er sammelt bei seinem Kontrollgang Nicole, seine Tochter, ein. Ein merkwürdig distanziertes Verhältnis, bei dem sie ihren Vater siezt. Ein paar Augenblicke später wird dies noch deutlicher: Sie gehen ins Obergeschoss und finden in einer Kammer einen Mann auf dem Bett liegend, tot. »Der Kerl ist mausetot«, stellt der Loursat fest und fragt seine Tochter: »Wer ist das?« Die Antwort, wir ahnen es schon, ist eine glatte Lüge: »Aber ich habe doch keine Ahnung!« Der Vater nimmt das hin, fragt aber wenige Augenblicke später nochmals nach. Wieder sagt seine Tochter, dass sie den Mann nicht kennen würde. Damit scheint die Angelegenheit für Loursat erledigt zu sein. Er ruft den Mann seiner Cousine an, auf den er keine großen Stücke hält, aber Staatsanwalt ist, und die Staatsgewalt übernimmt die weiteren Ermittlungen.
Der Berliner
Es gibt da diese Bande. Sie nennen sich auch die Mafia. Nicole ist die einzige Frau in der Runde, der Rest sind Kerle. Mit von der Partie sind Edmond Dossin (ein Cousin von Nicole und Anführer der Bande), Gil Daillat (Sohn des Metzgers), Marcel Destrivaux (Sohn eines Kassierers), Amédée Luska und Émile Manu. Letzterer war noch nicht so lang dabei und hatte sich prompt in Nicole verliebt (was auf Gegenseitigkeit beruhte). Sie treffen sich in der Kneipe von Jo – der Kneipier schien übrigens direkt aus Berlin zu kommen – anders ist das auffällige Berlinern in der Synchronisation nicht zu erklären. Was macht man denn in so einer Bande? Es wird getrunken, nur das harte Zeug, und von den einzelnen Mitgliedern werden Mutproben gefordert. Da werden aus Geschäften Feuerzeuge geklaut, das ist noch die einfachste Nummer, aber auch Autos. Grober Unfug, wenn man es kurz zusammenfassen möchte.
Die Probleme beginnen so richtig, als Émile das Auto eines Abgeordneten stiehlt und damit einen Unfall baut. Dabei fuhr er den »Großen Louis«, ein Gangster, an, der von der Bande verletzt im Haus von Rechtsanwalt Loursat untergebracht und gepflegt wird, ohne dass dem Hausherr Bescheid gegeben wurde. Der Verunfallte war kein netter Mensch und kommt auf die Idee, den Unfallfahrer zu erpressen. Der zahlte Geld an Louis, das er eigentlich nicht hatte.
Der Mann, den der Schuss erwischt hatte, war Louis.
Der Rechtsanwalt
Man weiß nicht, wer der Täter ist. Man ahnt, dass es nicht Émile ist, so sehr die Indizien auf ihn hinweisen. Man ahnt auch, dass es keine sehr clevere Wahl war, sich den Vater seiner heimlichen Freundin zum Verteidiger zu nehmen, der zudem Alkoholiker ist und seit zwanzig Jahren vor zwanzig Jahren zuletzt plädiert hat. Dieser Loursat macht auch keine Anstalten, sich groß in den Fall hineinzuhängen. Ganz am Anfang, spricht er mit ein paar Zeugen und dann gibt er sich wieder dem Alkohol hin.
Herausragend in diesem Film ist ohne Zweifel Raimu. Den größten Teil des Films spielt er die Figur des Loursat lethargisch, als einen Mann, den nichts interessiert. Seine Liebe gilt seinen Büchern und Wein. Selbst seine Tochter scheint ihm völlig egal zu sein. Dieser Loursat hat wache Momente – in diesen spielt sich im Gesicht von Raimu ein wahres Mimik-Feuerwerk ab, selbst wenn er selbst nichts sagt. Hat er einen gewissen Pegel erreicht, friert das Gesicht ein. Er ist der Grund, warum man sich den Film anschauen sollte.
Kein leichter Stand
Das »Lexikon des Internationalen Films« schreibt zu dem Film, dass er sich durch seinen beachtlichen sozialkritischen Tenor auszeichnet. Das dürfte unmittelbar auf die Person des Rechtsanwalt Loursats gemünzt sein, der seine Tochter über Jahre sträflich vernachlässigt hat. Sie warf ihm vor, dass er sie nicht geliebt habe und ihr seine Zuwendung verweigerte. Das dürfte Nicole noch mehr gestört haben, als der Alkoholismus ihres Vaters – der schon Grund genug für Verzweiflung gewesen sein dürfte.
Es hebt aber auch auf Plädoyers im Film ab: Als Loursats Schwester Marthe Dossin ihre Aussage macht und aussagt, dass ihr Leben zerbrochen sei, als ihr Sohn Manu begegnet sei und sie stolz auf ihren Sohn sei, fährt ihr Loursat dazwischen und interveniert. Bevor er anfängt zu argumentieren, gibt er seine Kernthese zum Besten: Nicht die Kinder gehörten in diesem Fall auf die Anklagebank, sondern die Eltern. Dann begründet er das für jedes Elternpaar und ungeschoren kommt nur die Mutter von Manu davon. »Was auch immer die Umstände gewesen sein mögen zu dieser Tat, die Verantwortung fällt niemals auf ein Kind. Denn Kinder sind nie schuldig.” Die Gründe sind unterschiedlich: Gleichgültigkeit, Vernachlässigung, Überfürsorge und mangelnde Freiheit. Des Weiteren macht er die Gemeinschaft dafür verantwortlich, denn während es in der Stadt hunderte Kneipen und Cafés geben würde, würde die Stadt der Jugend keine Gelegenheiten bieten, ihre Freizeit sinnvoll zu verbringen.
Wäre es allein diese Intention gewesen, mit der der Film gedreht worden wäre, so hätte man ihn nach 1944 in Frankreich nicht verboten: Statt dessen gab es im Original eindeutige antisemitische Tendenzen. So hieß m Original die Figur des Amédée Luska mit Vornamen Ephraïm. Der Film wurde nach dem Krieg auch in Frankreich nachsynchronisiert und die Stellen, in denen der Vorname von Luska genannt wurde, wurden geändert. Marnham erwähnt in seiner Biographie, dass das Judentum – welches im Buch eine untergeordnete Rolle spielt – im Film hervorgehoben wurde. Der Kurzfilm »Les Corrupteurs«, der vor dem Spielfilm gezeigt wurde, war eindeutig antisemitische Hetze. Aus der Kombination ergab sich, dass der Film eine antijüdische Gesinnung zu transportieren hatte.
An anderer Stelle verweist Marnham auf einen Artikel in den »Les Lettres françaises« vom März 1943, in der die Tatsache angegriffen wird, dass der Film in Deutschland unter dem Titel »Die französische Jugend« veröffentlicht worden wäre. Beklagt wurde darin, dass damit suggeriert worden wäre, die französische Jugend würde sich dem Verbrechertum hingeben. Ich habe keine weiteren Quellen gefunden, die das belegen oder dieses Thema aufgreifen.
In der nun erhältlichen Synchronisation ist von diesem Thema nichts mehr mitzubekommen. Man bekommt ein Gerichtsdrama zu sehen, in welchem die Zuschauer darauf warten, dass die Hauptfigur endlich aufwacht; erwarten, dass Loursat nicht scheitert und es ihm gelingt, sich aus dem Sumpf zu befreien, in dem er steckt und mit ihm Manu.