Bildnachweis: Hôpital Beaujon - Public Domain
Das Wander-Hospital
Eine gute Voraussetzung für ein Leben in Wohlstand und Gesundheit ist die Geburt in eine wohlhabende Familie. Nehmen wir als Beispiel Nicolas Beaujon: Er wurde in eine reiche, wenn auch protestantische (nichts ist perfekt, nicht wahr?) Familie geboren. Seine Familie besaß staatliche Gebäude in Bordeaux, da war an den Jungen nicht zu denken gewesen. So kann es gut losgehen!
»Mein Vater war Pfleger im Krankenhaus Beaujon.«
Wer Pfleger irgendwo ist, der gehört ganz gewiss nicht zur einer privilegierten Gesellschaftsschicht. War schon immer so und wird sich leider auch nicht ändern. Der Vater von Jeanne Jeunet gehörte dazu, konnte rackern, wie er wollte. Am Ende war da nur ein kleiner Kräuterladen in einer kleinen Straße von Paris und ein früher Tod.
Das soll jedoch nicht das Thema sein, sondern das Krankenhaus, das Madame Jeunet gegenüber dem Kommissar erwähnte. Nimmt man die Adresse des Kräuterladens und schaut, wie lange man von dort bis zum Krankenhaus in Clichy benötigt, kommt einem unweigerlich der Gedanke: »Da war der arme Mann aber ganz schön lang unterwegs!« Eine Fahrt in unter einer Stunde, egal ob mit Fahrrad, Öffentlichen oder heutzutage mit dem Auto, ist reine Glückssache.
Bei der Suche nach Bildern von dem Krankenhaus stößt man auf Abbildungen von einem Gebäude mit moderner Anmutung. Es überrascht, wenn man erfährt, dass dieses auch schon fast einhundert Jahre alt ist und im Art-Deco-Stil errichtet wurde.
Die Recherche zeigte auch, dass das Hospital früher nicht in Clichy beheimatet war sondern fast in der Innenstadt von Paris. Der Kräuterladen-Betreiber hatte für seinen Hauptjob nur in die Rue du Faubourg Saint-Honoré zu fahren, was innerhalb der Stadtgrenzen lag und er hatte auch nur die Hälfte der Strecke zurückzulegen, um zur Arbeit zu kommen.
Der Spender
Nicolas Beaujon
Credits: Public Domain
Das führt uns zurück zu Nicolas Beaujon. Die Familie hatte unter anderem mit Getreidehandel ihr Geld gemacht, und in die Fußstapfen trat der junge Beaujon ebenfalls. Im Alter von 22 Jahren wurde er in die Bretagne geschickt, um die Getreidekäufe für seine Heimat zu organisieren. Acht Jahre später waren die eigenen Ernten in der Region um Bordeaux erneut nicht ausreichend, dass er von der Regierung erneut beauftragt wurde, sich um die ausreichende Versorgung zu kümmern.
Beaujons Erfolge wurden von den Regierenden wahrgenommen und er machte Karriere in den Institutionen des »ancien régime«. Mit Hilfe der familiären Finanzkraft, die ihm in die Wiege gelegt worden war, konnte er seine Talente entfalten. Den nächsten Schritt kann man als kluge Diplomatie interpretieren: Er vermählte sich mit Louise Elisabeth Bontemps. Diese war die Tochter des ehemaligen ersten Kammerdieners von Louis XV. – eine Nichte eines Marschalls und die Cousine eines Vertreters der Ferme générale, einer Institution, die sich um die Eintreibung der Einnahmen aus indirekten Steuern, Zöllen, Registrierungsgebühren und Staatsprodukten zu kümmern. Die eigene bucklige Verwandtschaft kann man sich nicht aussuchen, auf die angeheiratete hat man einen gewissen Einfluss. Um hier gut zu wählen, bedarf es entweder einer Gabe, man hat weise Berater und vor allem sollte man sich nicht von der Liebe blenden lassen.
Nun hört sich ein Posten wie »Steuereintreiber«, wie ihn der Cousin seiner Ehefrau hatte, nach Finanzamt an. Damit unterliegt man einer Täuschung: Denn eigentlich war der Mann Chef einer Agentur, die in einem bestimmten Gebiet für den König Steuern einsammelte. Von dem Geld blieb ein erklecklicher Teil bei ihm hängen. Weshalb diese Posten sehr beliebt waren und auch Beaujon übernahm einen solche Stellen alsbald. (Solche Positionen wurden erkauft: Beaujon bezahlte für das Privileg eines »receveurs généraux des finances« eine Million Livre – hört sich nach viel Geld an, war es wahrscheinlich auch.)
Über diese Geschäfte und Posten machte er eine Karriere bis hin zum Staatsrat unter seinem Herrscher und wurde ein mächtiger Finanzier von diesem.
Im Jahr 1773 erwarb der Mann ein Herrenhaus in der Rue du Faubourg Saint-Honoré 55. Das Ensemble lief damals unter dem Namen Hôtel d'Évreux und wurde später umbenannt zum Élysée-Palast.
Das ist die Gelegenheit, auf dieses Gebäude einzugehen, denn interessanterweise wird der Sitz des französischen Präsidenten in den Maigrets entweder gar nicht (oder extrem selten) erwähnt. Selbst in »Maigret beim Minister« wird das Staatsoberhaupt nicht involviert: Louis-Henri de La Tour d'Auvergne, der Graf von Évreux, wollte gern der Führer der Jagden in Monceaux sein und trug seinen Wunsch beim damaligen Regenten Philippe d'Orléans vor. Der erwiderte, er würde ihm dieses Patent erteilen, wenn er ihm dieses in seine Pariser Residenz bringen könne.
Dumm nur, dass Graf kein Haus in der Hauptstadt hatte. Mittellos war der Mann nicht. Er hatte etwa zehn Jahre zuvor die Tochter von Frankreichs reichstem Bürgerlichen, Antoine Crozat, Marie-Anne geheiratet und eine ordentliche Mitgift kassiert. Aus heutiger Sicht hat die Liaison zwei Makel: Seine Angetraute war zur Hochzeit gerade zwölf Jahre alt. Außerdem hatte sein Schwiegervater, Antoine Crozat, sein Vermögen mit Sklavenhandel gemacht. Der Schriftsteller Louis-Georges Tin merkte deshalb an, dass der französische Präsidentensitz ohne den Handel mit Menschen wahrscheinlich nicht entstanden wäre.
Gebaut wurde der Palast zwischen 1718 und 1720, in den folgenden drei Jahren kümmerte man sich um die Dekoration – diese Unterscheidung ist bemerkenswert. Der Graf lebte bis 1753 zufrieden in den Räumlichkeiten. Später wurde es die Residenz von Madame de Pompadour, zwischenzeitlich ein Museum, bevor der Komplex von Beaujon als Stammsitz für etwa 600.000 Livre erworben wurde.
Und ja: Der Regent kam damals ins Haus des Grafen und erreichte ihm das Patent für die Führerschaft bei der Jagd.
Irgendwie Wahnsinn
Wir nähern uns wieder Nicolas Beaujon und machen trotzdem wie der einen Abstecher: Wer die Maigret-Romane gelesen hat, ist sicher auch über die »Folies Bergère« gestolpert. Im besten Fall hat man bei einem Besuch in Paris abgespeichert, dass es sich um ein Varieté handelt; oder hat den Begriff in einem Film aufgeschnappt. Weitere Gedanken sind nicht angebracht.
Aber da der Monsieur zu dem Palast, den er erworben hatte, noch die »Folie Beaujon« bauen ließ, funktioniert das Hinnehmen nicht mehr. Was hat er sich hinstellen lassen und warum hat das was mit »Wahnsinn« zu tun?
Zuallererst ist es wirklich ein Begriff, der ein medizinisches Problem beschreibt – die Wortwahl sowohl im Original wie auch in der Übersetzung wird heute von Ärzten nicht mehr gebraucht. Den französischen Wortstamm selbst kennt der Maigret-Enthusiast aus diversen französischen Originaltiteln wie Beispiel dem »Verrückten aus Bergerac« oder der angeblich »verrückten Witwe«.
Dieser »Wahnsinn« wird auch für ein Musikgenre des 17. und 18. Jahrhunderts verwendet, in welchem ein Motiv immer und immer wieder wiederholt und sich dabei verändert. Dieses Genre hatte seinen Ursprung in Italien, aber diese Schöpfung des Barocks bringt einen in der Fragestellung, was sich Beaujon bauen ließ, nicht zum Ziel.
Den eigentlichen Grund findet man in der Architektur. Im Frankreich des 17. Jahrhunderts wurde der Begriff »la folie« für (kleinere) Gebäude verwendet, die zum reinen Vergnügen gebaut wurden oder teilweise in Gegenden, in die kein vernünftiger Mensch bauen würde – zum Beispiel an Abhänge. Zumindest wurden diese Projekte in der damaligen Zeit als Verrücktheit angesehen.
Das trifft auf das »Folie Beaujon«, welches der gute Mann ganz gewiss nicht zum Wohnen benötigt hat. Zum Entspannen war das zwölf Hektar große Anwesen aber gut zu gebrauchen. Würde man es heute auf einer Karte einzeichnen wollen, würde man ein Gebiet Zeichen der Avenue de Wagram, dem Place Charles-de-Gaulle, der Avenue des Champs-Élysées, der Rue Washington und der Rue du Faubourg-Saint-Honoré markieren müssen.
Das Gelände war damals eher Vorort als Zentrum von Paris. Beaujon legte einen Garten im englischen Stil an und ein Gebäude, Kartause genannt, in das er sich zurückzog. Glaubt man den Schilderungen der damaligen Zeit, war es nicht sehr luxuriös. Das spiegelt auch die Bezeichnung wieder, die Beaujon dafür gewählt hatte: Einsiedlei. Das Ensemble bestand dazu aus Gewächshäusern, einem Bad und einer Kapelle. (In dieser privaten Kapelle Beaujons wurde lange nach dem Tod des Finanziers übrigens auch der Sarg von Honoré de Balzac aufgebahrt.)
Diesem Komplex angegliedert wurde ein von Beuajon gestiftetes Hospiz für Kinder, die ansonsten in Armut gelebte hatten. Nach seinem Tod wurde diese Einrichtung während der Revolution in ein Krankenhaus umgewandelt und trug seit dem Jahr 1803 den Namen »Hôpital Beaujon«.
Wechselhaft
Krankenhaus Beaujon
Credits: Parisette (CC BY-SA 3.0)
Die Arbeiten an dem neuen Krankenhaus begannen 1933 – und damit nach dem Erscheinen dieses Maigret-Romans. Der Umzug fand im Jahr 1935 statt. In dieser Zeit wurde das Krankenhaus umbenannt und hieß dann »Beaujon de Clichy«. Auch eine Methode, um deutlich zu machen, dass man sich gefälligst woanders hin zu begeben hatte.
Das Krankenhaus wurde als »Wolkenkratzer-Krankenhaus« bezeichnet – dreizehn Stockwerke hatte es. Es wurde in die Vertikale ausgerichtet und gilt als Block-Krankenhaus. Das entspricht dem, was wir heute in vielen Krankenhäusern kennen – ein großes Gebäude, in denen man viele unterschiedliche Krankheiten und Gebrechen behandeln kann. Als das Krankenhaus in den 1930er-Jahren errichtet wurde, war das Beaujon-Krankenhaus zu Clichy jedoch eine Innovation in Sachen Architektur. Und die Konzeption als Block-Krankenhaus war ebenfalls noch nicht lange gängig.
Seit dem 18. Jahrhundert – und so tangiert es den Vorgänger des Hospitals in Clichy – wurden Krankenhäuser nach dem Pavillon-Prinzip errichtet. Diese Methode war den damaligen Fortschritten in der Medizin geschuldet: Die Forscher hatten erkannt, dass sich Krankheiten schneller verbreiten, wenn man viele Menschen auf engem Raum zusammenpfercht. Hatte sich jemand einen Arm gebrochen, musste er sich durch das neue Konzept später nicht mit Pocken oder ähnlich üblem Zeug herumschlagen, nur weil im Nachbarzimmer ein Infizierter lag.
Der medizinische und technische Fortschritt war es wiederum, der dafür sorgte, dass die Bauweise der Separierung aufgeben werden konnte: Zum einen wurden Antibiotika entwickelt, womit man eine ganze Reihe von Infektionskrankheiten in Schach halten konnte, zum anderen wurden eine technischen Gerätschaften entwickelt, die man möglichst nur in einem Gebäude vorhalten wollte, die Wege aber trotzdem kurz halten wollte – zum Beispiel das Röntgen. Maßgeblich waren zudem die Entwicklungen im Bauwesen (zum Beispiel der Stahlbeton) und die Fortschritte in der Fahrstuhl-Technik.
Heutzutage sind wir schon wieder weiter und die Krankenhaus-Architektur hat sich gewandelt: Während früher die Einrichtungen so gebaut wurden, dass jede Fachabteilung auf sie zugeschnittene Räumlichkeiten bekam, baut man heutzutage so, dass die Funktionen von den Räumen jederzeit geändert werden kann, um schneller auf medizinischen und technischen Fortschritt reagieren zu können und in der Lage ist, umzurüsten – ohne mit aufwändigen Baumaßnahmen reagieren zu müssen.
Die alten Einrichtungen des Krankenhauses Beaujon in der Rue du Faubourg Saint-Honoré wurden 1937 endgültig geschlossen. Aber auch dem »neuen« Krankenhaus droht schon ein Ende. Ab 2025 soll ein neuer Krankenhauskomplex im Pariser Norden errichtet werden, der das Beaujon- und das Bichat-Krankenhaus zusammenführen soll. (Letzteres findet übrigens auch in den Maigret-Romanen Erwähnung: Lognon wurde, als er im Gespenster-Fall verletzt wurde, in das Bichat gebracht und operiert.)
Von dem alten Krankenhaus, das von dem im St.-Pholien-Fall die Rede ist, kann an der alten Adresse noch ein Portal besichtigt werden.