Bildnachweis: Polcode - maigret.de / Leonardo AI
Der Code
Unzählige Male las ich das erste Kapitel von Maigrets Pietr-der-Lette und nie habe ich mir Gedanken darüber gemacht, was uns Simenon über die Interpol erzählte. Das passierte erst heute und ich hatte gleich eine Reihe von Fragezeichen im Gesicht. Denn der Schriftsteller vermischte offenbar Tatsachen mit Fiktion auf kreative Weise. Und da sind wir noch gar nicht beim Organigramm.
Bei der Beschäftigung mit dem Thema stieß ich auf eine Reihe von Tatsachen, die zumindest mir gar nicht bewusst gewesen sind:
- Bei Interpol handelt es sich um einen Verein, in dem sich die Staaten zusammengeschlossen haben, um polizeiliche Erkenntnisse auszutauschen. Weshalb die Organisation auch kein völkerstaatliches Statut besitzt und kein Parlament einen Beitritt ratifiziert hat.
- Einen Interpol-Haftbefehl gibt es nicht. Genauso wenig wie Interpol-Agenten.
- Die FIFA finanziert auch Interpol.
Simenon hatte im dritten Absatz kurz beschrieben, was es mit der Polizeiorganisation auf sich hatte – denn man konnte nicht davon ausgehen, dass es sich dabei um Allgemeinwissen handelte. Damals saß die Organisation, die 1923 gegründet wurde, noch in Wien. Und sie hieß nicht »Interpol«, sondern nannte sich »Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission« (IKPK). So verwendet der Autor in seinem Text auch die Bezeichnung »Commission Internationale de Police Criminelle«. Der Name »Interpol« wurde für sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg gewählt.
Das komische Telegramm, mit dem die Geschichte beginnt, setzte den Vorgang in Gang, den ich »Hier muss mal nachgeschaut werden!« nenne. Im Hinterkopf ist da immer die Frage, ob das denn sein kann. Das war das Fernschreiben, das in dem Fall erwähnt wird:
Interpol an Sûreté Paris
Xvzust Krakau vimontra m ghks triv psot uv Pietr der Lette Bremen vs tyz btolem.
Ich konnte nicht weitergelesen und warf stattdessen den Text dem Google-Übersetzer zu Fraße vor. Der kapitulierte jedoch mit der Vermutung, dass es sich bei der Sprache um Hindi handeln würde und gab eine Übersetzung aus, die keine war. Da hatte sich der liebe Simenon wohl was ausgedacht, nahm ich an, und tippte auf eine osteuropäische Inspiration. Das ist nicht von der Hand zu weisen, wenn man sich den Text betrachtet.
Er schrieb damals etwas von »übersetzen«, was auch heute in den deutschen Ausgaben so steht. Mir scheint das nicht die richtige Bezeichnung zu sein, denn eigentlich handelte es sich um eine Codierung und die hätte er dechiffriert. Hätte viel abenteuerlicher geklungen als »übersetzen« – aber gut, das ist meine Meinung.
Dass es sich dabei eher um eine Codierung handelt, lässt sich ebenso aus der folgenden Ausführung von schließen:
Maigret nahm ein zweites Telegramm zur Hand, das ebenfalls im Polcode verfasst war, der internationalen Geheimsprache, die in der Kommunikation der Polizeidienste auf der ganzen Welt verwendet wird.
»Polcode« hört sich schon mehr nach einer geheimen Verschlüsselung an, denn nach einer Sprache. Die Entwicklung einer Sprache innerhalb von sechs Jahren wäre ein mutiges Unterfangen gewesen, womit sich die Kriminaler sich nicht abgeben wollten. Angefangen hatte man mit etwas über zwanzig Staaten, die sich zusammengeschlossen hatten. Die Angabe Simenons, dass es sich um Polizeien aus »der ganzen Welt« handeln würde, kann man als stimmig betrachten – waren doch mit China, Japan und Ägypten eine Reihe von Exoten bei der Gründung dabei, wo der Rest der »Bande« doch sehr europäisch war. Die USA kamen übrigens erst in den 1930er-Jahren dazu. Das, was mal Interpol werden sollte, war damals ein kleiner, exklusiver Klub.
Um auf den eigentlich Punkt zurückzukommen: Eine passende Verschlüsselung hätte man in der kurzen Zeit einführen können (und hat es wahrscheinlich auch). Was den Namen angeht, so gibt es keine Indizien, dass man für eine Sprache oder Codierung diesen Namen verwendet hätte.
Und wenn doch: Dann haben sie es sehr gut geheimgehalten.
Simenon hatte jedoch noch eine zweite Idee, wie man die internationale Zusammenarbeit verbessern hätte können:
Er öffnete eine Schublade und überflog ein Telegramm des Internationalen Erkennungsdienstes in Kopenhagen [...]
Eine Möglichkeit ist, dass Simenon da etwas missverstanden hat: Nach der Gründung wurde sehr schnell ein zentraler Ermittlungsdienst eingerichtet. Sein Zweck war aber eher der, die Kommunikation zwischen den verschiedenen Polizeibehörden der Staaten zu verbessern (wie oben erwähnt: Dass es einen gemeinsamen Erkennungsdienst gegeben hätte, der dann seinen Sitz auch noch in Dänemark hat, dafür finden sich ebenfalls keine Spuren.
Unter Berücksichtigung der weiteren Entwicklung der IKPK mit der Machtergreifung Hitlers in Deutschland und der späteren Eroberung verschiedenster europäischer Staaten (was ja Dänemark mit einschloss), stellt sich schnell die Frage, ob so ein Datenschatz in den Händen der Deutschen eine gute Idee gewesen wäre.
Zusammengefasst darf festgestellt werden, dass es bemerkenswert ist, dass Simenon die recht junge Organisation in seine Geschichte mit eingewebt hatte; er sich dabei jedoch die Freiheit genommen hat, ein wenig was dazu zu erfinden.