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Der dritte Spaziergang
Mit ein wenig Glück hätte es ein kurzer Spaziergang für Madame Maigret werden können. Dieses war ihr jedoch nicht hold, denn ihr Mann »schleppte« sie zum Mittagessen zwar in ein Restaurant in unmittelbarer Nähe, aber von da an hieß es wieder »heiße Füße«. Im weiteren Verlauf hatte der urlaubende Kommissar dann Mitleid mit seiner Frau ...
Die erste Etappe: Place de la Bastille
Vielleicht starten Sie, wenn Sie die ersten beiden hier vorgestellten Spaziergänge ebenfalls absolviert haben, nicht erneut vor dem Haus der Maigrets. Andernfalls fallen Sie auf und ich will nicht, dass ein besorgter Bürger die Polizei ruft, weil Ihr häufiges Auftauchen vor dem Zuhause des Kommissars verdächtig ist!
Bei meinem ersten Paris-Besuch hatte ich gewisse Informationsdefizite. Die Französische Revolution war Teil des Geschichtsunterrichts, den ich genossen hatte, und damit stand auch die Erstürmung der Bastille auf dem Lehrplan. Aber was wird einem in der Schule schon beigebracht: Die Leute waren unzufrieden, das Brot war zu teuer, sie lehnten sich auf und stürmten die Bastille. Dann nahm die Revolution seinen Lauf.
Was mit der Bastille geschah, das erfuhr ich nicht und insofern war ich enttäuscht, als ich 1990 auf dem Place de la Bastille stand. Wohin ich mich auch wandte, von dem ehemals mächtigen Gebäude war nichts zu sehen. Am 14. Juli 1789 wurde die Anlage gestürmt, zwei Tage später begann der Abriss – hier und heutzutage ist ein solcher Aktionismus unvorstellbar. Es gab ein paar Mauerreste, die überdauerten die vielen Jahre nicht.
Als ich als Tourist zweihunderteins Jahre später an den Ort kam, hatte man mir nichts zum Fotografieren übergelassen. Dass die Festung nach dem Sturm geschliffen wurde, wurde im Unterricht vergessen zu erwähnen. Der Fairness halber will ich hinzufügen, dass wir in der DDR im Geschichtsunterricht nicht auf touristische Reisen ins kapitalistische Ausland vorbereitet wurden.
Wenn wir schon dabei sind: Weder im Französisch- noch im Wehr-Unterricht wurde einem beigebracht, wie man sich gegen französische Kellner wehrt, die einem einen Salat mit verdorbenen Fisch andrehen. Ich hätte weder gewusst, was »Lachs« heißt, noch wie man »stinkt« in dem Satz mit unterbringt. Mir ist jedoch gut in Erinnerung, dass der Fisch einen Geruch ausströmte, der die gesamte französische Küche bis heute beschämt. Mein Freund konnte seinen Salat nur essen, wenn er den Teller so drehte, dass der Fisch mir zuwinken konnte. Immer wenn er das tat, war es mir unmöglich, weiter an meinem fischlosen Salat zu knuspern.
Vielleicht war das noch eine Rache am sogenannten »hässlichen« Deutschen. Für wahrscheinlicher halte ich es, dass die Bedienungskräfte die Unerfahrenheit ostdeutscher Touristen erspürt hatten – auch eine Art von Sensibilität. Hätte ich nicht eine gewisse Beharrlichkeit, dann wäre das der Tag gewesen, an dem das Tischtuch zwischen mir und der französischen Küche zerschnitten worden wäre. Aus heutiger Perspektive würde ich sagen, dass das ein Jammer wäre!
Inspiration für Fantasy-Autoren und der Kerker
Diese epischen Kriege, die oft Teil von Fantasy-Geschichten sind, beeindrucken nicht nur durch die Truppen, die sich in den Kampf zu werfen haben, sondern auch durch die schier unglaubliche Länge, die von einer Unversöhnlichkeit zeugen, die unglaublich erscheint. Wie ist es möglich, über einen solch langen Zeitraum hinweg nachtragend zu sein, über Generationen? Es wird sich am Ende keiner mehr erinnert haben, worum es am Anfang ging.
Woher die Fantasy-Autoren das haben? Sie haben in die Geschichtsbücher geschaut und dort den Hundertjährigen Krieg gefunden, der nicht exakt hundert Jahre lang war, sondern hundertsechszehn. Da müssen eine Reihe Leute ziemlich sauer aufeinander gewesen sein, und es ist davon auszugehen, dass die Herrschaften, die den Konflikt anzettelten, an seinem Ende schon viele Jahre tot waren. Diese Auseinandersetzung war es, die die Pariser bewog, sich die Bastille zuzulegen. 1370 begann der Bau. Da war man schon 30 Jahre mit dem Schwingen von Waffen beschäftigt und hatte eine Menge Opfer zu begraben gehabt. Ziel war ein besserer Schutz vor herumziehenden und plündernden Engländern.
Es war ein großes Projekt und der Bau der zog sich dreizehn Jahre hin. Am Ende dieses Projektes hatten die Pariser etwas Schönes und Praktisches am Rande der Stadt. An der Stelle hätte ich etwas Gemeines über die Engländer und ihre Gefühle gegenüber diesem Bauwerk schreiben können, aber ein kleiner Seitenhieb auf unsere Hauptstädter scheint mir passender zu sein: Der Berliner Flughafen benötigte vierzehn Jahre bis zu seiner Vollendung und die Praktikabilität muss sich erst noch herausstellen.
Ludwig XIII. fand, der Bau ließe sich hervorragend in ein Gefängnis umgestalten und so diente das Gebäude seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Staatsgefängnis. Dort zu landen, war auf jeden Fall unangenehm. Die Unterbringung in dem Komplex hing maßgeblich vom eigenen Wohlstand und dem seiner Verwandtschaft ab. In den oberen Unterkünften war es noch einigermaßen angenehm, aber wenn das eigene Vermögen aufgebraucht und die liebe Familie auch nicht mehr bereit war (oder nicht länger in der Lage war), einen zu unterstützen, ging es etagenweise nach unten. Die Etablissements in den Kellern waren mehr als berüchtigt.
Friedrich Polack – Die Bastille vor ihrer Zerstörung
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Bernard-René Jordan de Launay hatte keinen anstrengenden Job als Bastille-Boss in jenen Tagen des Juli 1789. Es gab nur sieben Gefangene, die er als Gefängnisdirektor zu bewachen hatte. Die Bastille diente auch als Waffenlager, weshalb das gemeine Volk auf die Idee kam, man könne sich dort zwecks allgemeiner Bewaffnung bedienen. Es zog los, um sich die »Argumente« aus der Festung zu besorgen. Der adlige Vorsteher war einigermaßen irritiert ob dieses Wunsches und beschied das Ansinnen abschlägig. Er ließ in die Menge schießen und es waren im Anschluss achtzig Tote zu beklagen. Die Masse zog sich zurück, beratschlagte sich und stand kurz darauf mit besseren Waffen vor der Tür. Deren Einsatz wiederum überlebte der Chef der Bastille nicht. Marquis de Launay war somit am Ende des 14. Juli das erste prominente und adlige Opfer der Revolution und ein Eintrag in den Geschichtsbüchern war ihm sicher. Die Schmach, dass sein Kopf auf einer Heugabel aufgespießt durch Paris getragen wurde, hat er nicht mehr mitbekommen. Andere Adlige dürften, nachdem sie davon erfahren haben, begonnen haben, sich darüber Gedanken zu machen, wohin diese Revolte noch führen könnte.
Der Monsieur, der auf die Idee kam, dem Marquis den Kopf abzuscheiden, bekam als Spitznamen »Jourdan der Kopfabschneider« verpasst, und es sollte in den folgenden Jahren eine Marotte von ihm werden, anderen Leuten den Kopf abzuschneiden. Ironie der Geschichte ist, dass er fünf Jahre später ebenfalls sein Leben verlor – Mathieu Jouve Jourdans Leben endete wie so viele unter dem Fallbeil der Guillotine.
Um einen Kopf ging es in dem Fall, der Maigret beschäftigte, auch. In der Zeit, in der Maigret ermittelte, war es üblich, Mörder zu köpfen. Aber er war nach wie vor im Urlaub und hatte sich von seiner Wohnung aus zum nahe gelegenen Place da la Bastille begeben, um dort mit seiner Frau zu speisen. Es war nicht viel los, denn die Stammgäste waren in den Ferien und die Touristen fanden nur durch Zufall in dieses Restaurant. Nach dem Speisen wechselten sie auf die Terrasse eines Cafés. Ein Zeitungsjunge kam und wie immer kaufte Maigret zwei Zeitungen, die es zu studieren galt.
Madame Maigret mochte die Hoffnung gehabt haben, dass ihr Mann durch die Zeitungen ruhig gestellt wird und kein Bewegungsdrang verspürt. Sie fragte ihn, ob er zum Quai gehen wollte. Aber danach war ihm nicht. Er hatte eine ganz andere Idee, die Louise seinen Seufzer entlockte. Es war kein Ausdruck der Freude …
»Gehen wir!«
»Wohin?«
»Irgendwohin. An die Quais bei Bercy, wenn du willst.«
Sie ergab sich in ihr Schicksal.
Da ich ein gewisses Faible für Wasser habe, würde ich von dem Platz entlang des Canal Saint-Martin/Boulevard de la Bastille Richtung Seine spazieren. Aber nicht bis ganz nach unten, sondern vorher in die Rue de Bercy einbiegen, die einen – der Name verrät es – nach Bercy führt. Man kommt am Bahnhof Gare de Lyon vorbei und während man diesen passiert, kann man in die Rue Villiot abbiegen, um zum Quai de la Rapée zu gelangen. Von dem hat man nur wenige Meter, denn dann beginnt schon der Quai de Bercy.
Die zweite Etappe: Quai de Bercy
Quai de Bercy
Spazierte man am Quai de Bercy entlang, wie es die Maigrets taten, so sah man auf der einen Seite gutbürgerliche Häuser und auf der anderen Seite – zur Seine hin – sah man die Fässer mit Wein. Zahllos, wenn man sich die Bilder anschaut (hier in der Galerie weiter unten zu betrachten).
Das Wirtschaftsministerium in Paris am Quai de Bercy
Von der Innenstadt kommend passieren Flaneurinnen und Flaneure heute auf das Gebäude des Wirtschaftsministeriums, welches dominant über die Straße ragt. Dahinter kommt die Pont de Bercy und linker Hand ist die »Accor Arena« zu erblicken, eine Sport- und Konzertstätte, welche ursprünglich als »Palais Omnisports de Paris-Bercy« eröffnet wurde. Die Namen von Gebäuden an den Meistbietenden zu verhökern, hat sich in den letzten Jahren eingebürgert und warum damit bei Stadien und Konzertstätten aufgehört hat, erschließt sich mir nicht. Was könnte man für ein Geld machen, wenn man den Namen von Schloss Versailles oder beispielsweise den des Potsdamer Schloss Sanssouci verscherbeln würde. Ich hätte passende Namensvorschläge: Versailles könnte in »Château Louis Vuitton« umbenannt werden und Günter Jauch hat eine besondere Beziehung zu Potsdam, womit sich entweder die Namen »Na siehste«-Schloss oder – auch nicht unpassend – »Wer wird Millionär?«-Schloss anbieten würden.
Auf dem Gebiet von Bercy hat man die ältesten Überreste menschlicher Besiedlung im Pariser Raum gefunden. Wäre es für den Ort ideal gelaufen, würde man heute in die Stadt der Liebe nach Bercy fahren. Es ist, wie man unschwer bemerkt, anders gekommen. Große Städte sind gefräßig. Sie wollen wachsen und so verleiben sie sich alles ein. Montmartre kann ein Lied davon singen, Bercy ebenso. Das Dörfliche hatte Abschied zu nehmen. Manchmal kommen die Großen gar von zwei Seiten. Von links drängelte Paris, von rechts Charenton-le-Pont. Paris sollte gewinnen und verleibte sich 1859 den Ort an der Seine ein.
Ein gesundes Selbstbewusstsein konnte man den Franzosen nicht absprechen. Es herrschte die Meinung vor, dass der Staat stark war und niemand Frankreich angreifen würde. Seit dem 17. Jahrhundert verzichtete Paris auf eine Stadtbefestigung. Man erwartete keine Feinde, hielt diese Art der Verteidigungstechnik für altmodisch. Ein anderer Nachteil war, dass diese Befestigungen nicht mit dem Wachstum großer Städte mithalten konnten.
Nach der Revolution und den Eskapaden von Napoleon Bonaparte setzte ein Umdenken ein, denn plötzlich sah man innerhalb weniger Monate fremde Heere vor den nicht vorhandenen Toren der Stadt von Paris. (Wobei die Formulierung so nicht korrekt ist, denn es gab Tore, die jedoch anderen Zwecken dienten – darauf wird später zurückgekommen.)
Die eine Mauer
Franz Xaver Winterhalter – König Louis-Philippe I.
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So verfolgte der sogenannte Bürgerkönig Louis Philippe die Idee, die Stadt neu zu befestigen. Die ersten Pläne lagen 1833 vor. Nicolas Jean-de-Dieu Soult, der letzte Maréchal général des camps et armées du roi in der Geschichte Frankreichs, hatte sich seine Gedanken gemacht. Die Parlamentarier waren davon nicht im gleichen Maße überzeugt. Ein Grund dafür war, dass sie der Meinung waren, dass sich diese Baumaßnahme nicht gegen Feinde von außen richtete, sondern vielmehr gegen die eigene Bevölkerung. Wenn sich König:innen etwas in den Kopf gesetzt haben, dann ist es ihnen schwer wieder auszureden. Die Mauer kam. Adolphe Thiers war zu Beginn der Bauarbeiten Ministerpräsident, weshalb die Anlage seinen Namen trug: Enceinte de Thiers (Thierssche Stadtbefestigung). Bei ihrer Fertigstellung 1844 war dieser schon vier Jahre in der Opposition.
Thierssche Stadtbefestigung – um 1913 – spielende Kinder vor dem Hauptwall
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Für die Befestigung baute man 16 Forts und gefolgt vom Hauptwall. Diese umspannte Paris auf einer Länge von knapp 35 Kilometern. Zu den 95 Bastionen kamen 17 Tore und Reihe von Durchlässen zum Beispiel für die Eisenbahn. Die Mauer war zehn Meter hoch. Man erkennt, wo das Problem lag: Die Mauer war nicht sehr hoch und bei der sich entwickelnden Militärtechnik war die Mauer schon fünfzehn Jahre nach seiner Fertigstellung komplett veraltet. Es darf bezweifelt werden, dass zu dem Zeitpunkt die 140 Millionen Goldfranc, die als Kredit für den Bau aufgenommen worden waren, zurückgezahlt worden waren.
Seine erste Bewährungsprobe hatte die Mauer im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Isabella II. von Spanien war vom Militär gestürzt worden und man suchte einen neuen Regenten für Spanien. Man entschied sich in Madrid nach längerem Suchen für Prinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen.
Das Selbstbewusstsein der Franzosen waren seit der Niederlage in den Napoleonischen Kriegen ein wenig angeknackst, die außenpolitischen Ziele wurden nicht oft nicht erreicht. Die Franzosen hatten sich erhofft, in dem Deutschen Krieg von 1866 zwischen Preußen und Österreich als lachende Dritte dazustehen. Bismarck hatte versucht, die Franzosen zur Neutralität zu bewegen – diese wollten dafür Teile von Belgien, die Saarregion und die Pfalz. Das wollte der Fürst jedoch nicht zusagen. Die Franzosen schlossen einen Geheimvertrag mit Österreich. Der Preis für die Neutralität war das preußische Rheinland. Nun gewann Österreich den Krieg jedoch nicht. Frankreich bekam nichts und war sauer. Sie sahen sich als Verlierer dieses Krieges, was eine interessante Herangehensweise für eine am Krieg nicht beteiligte Partei ist, die weder etwas gewonnen noch verloren hat. Es gibt eine Reihe von Verträgen und Kriegen, die zu Lasten dritter Staaten gingen, die nicht daran beteiligt war. Aber in diesem Fall hätte ich einen Arzt vorbeigeschickt, der den Geisteszustand hätte prüfen können.
Irgendetwas wollten die Franzosen aber haben, weshalb ihnen in den Sinn kam, Luxemburg zu übernehmen. Mit dem holländischen König war man sich einig, aber der wollte auch eine Einwilligung aus Preußen, die es jedoch nicht gab. Bismarck setzte sich für eine friedliche Beilegung des Konflikts ein und am Ende verzichtete Frankreich. Gut für den Frieden in Europa, schlecht für das französische Selbstbewusstsein.
Zurück ins Jahr 1870: Ein Leopold, der irgendwie zur Familie des deutschen Königs gehörte, sollte König von Spanien werden. Das war zu viel! Das französische Parlament erklärte, nachdem die Diplomatie gescheitert war, den Deutschen den Krieg. Das war am 19. Juli. Genau zwei Monate später standen die deutschen Truppen vor der Thierssche Stadtbefestigung und die französischen Parlamentarier dürften sich gefragt haben, ob ihr Kriegsenthusiasmus wegen eines spanischen Königs wirklich eine gute Idee gewesen war.
Die Mauer hinderte die Deutschen daran, direkt in Paris einzumarschieren. Das war ein Pluspunkt der Installation. Auf der Haben-Seite stand ebenso, dass ein Großteil der deutschen Kräfte damit beschäftigt war, die Stadt zu belagern. Die Stimmung in Paris dürfte trotzdem nicht so toll gewesen sein, denn die Deutschen hatten Zeit, schweres Belagerungsgerät zu besorgen. Die Forts wurden niederkämpft und im Anschluss konnte man die Stadt in aller Seelenruhe bombardieren. Anfangs ließen die Deutschen das noch sein, um die Zivilbevölkerung zu schonen. Aber irgendwann schauten sie nicht mehr, ob man neutrale Drittstaaten damit verärgern könnte und der Beschuss sorgte dafür, dass man Paris kapitulierte. Ende Januar 1871 war der Spuk vorbei.
Die Befestigungsanlage hatte den Feind nicht aufgehalten. Eine Möglichkeit wäre gewesen, in Zukunft aktiv Kriege zu verhindern. Das war jedoch nicht die Lehre, die daraus gezogen wurde, sondern man entschloss sich, die Anlage zu verstärken. Es wurden weitere Forts gebaut. Durch die Erfindung von Brisanzgranaten hatte sich das ganze Konstrukt bald überlebt. Dieser Art von Munition waren die Anlagen nicht gewachsen. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu einem Rückbau, was Bercy aber nichts mehr nutzte.
Denn die Stadtbefestigung war ein Grund gewesen, warum sich Paris auszudehnen hatte.
Die andere Mauer
Im 18. Jahrhundert entstanden in Bercy eine ganze Reihe von Lagerhäusern. Der Inhalt: Weinfässer. Nun waren es nicht die Bewohner von Bercy, die den Wein in diesen Massen benötigten. Es waren die Pariser. Schon um 1700 rum lebten in der französischen Hauptstadt 600.000 durstige Seelen. Interessant wäre es zu erfahren, ab welchem Alter die Franzosen ihre Kinder Wein trinken ließen. Aber da es offenbar nicht unüblich war, dass man dreizehnjährige Mädchen verheiratete, dürfte auch beim Ausschank des Nationalgetränks eine gewisse Flexibilität vorhanden gewesen sein. Womit wir bei dem nächsten Thema wären: Antoine Laurent de Lavoisier.
Jacques-Louis David – Lavoisier und seine Frau Marie
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Der 1743 geborene Lavoisier war vieles: Naturwissenschaftler, Ökonom und Rechtsanwalt. Nachdem er Naturwissenschaften studiert hatte, kam er dem Wunsch seines Vaters nach und studierte die Jura. Nachdem Studium war der junge Mann eingetragener Rechtsanwalt. Während es keine großartigen Berichte über ihn gibt, dass er erfolgreich Prozesse bestritt und sich einen Namen machte, sah es in der Chemie anders aus: Er veröffentlichte Arbeiten über Gips und erforschte die Rolle von Sauerstoffs während des Verbrennungsprozesses. Spekulationen mochte er nicht, er wollte Beweise sehen – so ist seine Methodik auch heute noch gängige Praxis: Am Anfang steht das Experiment, man betrachtet das Ergebnis und zieht dann seine Schlussfolgerungen. Die Begrifflichkeit sind heute ein wenig anders, aber er kann als Vater der modernen Chemie gesehen werden. Dazu gehört auch, dass er daran beteiligt war, die blumige Sprache der chemischen Elemente in eine sachlichere Nomenklatur zu gießen.
Wenn man sich schon mit Sauerstoff und Verbrennung beschäftigt, dann ist man recht schnell bei explosiven Stoffen. Auch hier hatte der Mann sich gewisse Verdienste erworben, weshalb er eine Karriere als Chef der französischen Pulververwaltung machte. Die französische Armee wäre nicht so erfolgreich gewesen, hätte er sich nicht um die saubere Herstellung gekümmert. Er legte nicht nur Augenmerk auf die Effizienz sondern auch auf die Qualität der Produktion.
Da er an den finanziellen Erlösen der Pulverproduktion beteiligt war, wurde er ein wohlhabender Mann – der durchaus ein Blick auf das Soziale hatte. Als es aufgrund schlechter Ernten zu massiven Steigerungen der Kornpreisen kam, unterstützte er im Jahre 1887 die Bevölkerung in der Nähe seines Gutes in Blois und Romorantin.
Das Erstaunliche: Er machte das nicht alles nacheinander, er machte es zur gleichen Zeit
Barrière des Vertus als Teil der Mauer der Generalpächter
Credits: J.-L.-G.-B. Palaiseau – CC BY-SA 4.0
Ein anderer Aspekt bringt aber Bercy mit Lavoisier zusammen: Steuern. Die Lagerhäuser in Bercy entstanden, um Zöllen zu entgehen. Wer Waren nach Paris einführte, hatte Zoll zu zahlen. Diese wurden jedoch nicht direkt an den Staat abgeführt. Dieser delegierte die Aufgabe an sogenannte Steuerpächter. Diese hatten beträchtliche Summen abzuführen, allerdings waren die Gewinne auch nicht ohne. Nun war es in Paris in der Mitte des 18. Jahrhundert so, dass es keine richtige Stadtbegrenzung gab. Wer wollte, kam mit seinen Waren in die Stadt, ohne einen Sou Zoll entrichtet zu haben. Die Steuerpächter reagierten und errichteten von 1885 an die »Mur des Fermiers généraux«. Die Mauer war 25 Kilometer lang und es gab etwa 60 Tore, mit der man in die Stadt gelangte. Die Idee für diese Barriere hatte unter anderem Lavoisier. Populär war das nicht. Zum einen gab es die finanzielle Komponente – denn es würden mehr Zöller erhoben werden und die Möglichkeiten für den Schmuggel wurden eingeschränkt. Zum anderen wurden für dieses Bauwerk viele Menschen enteignet. Dass die Baukosten letztlich von den Steuerzahlern gestemmt werden mussten, dürfte auch klar sein.
Letztlich war es diese Mauer, die den sehr bekannten Naturwissenschaftler den Kopf kosten sollte. In einem Prozess warf man den Generalpächtern vor, dass sie Geld unterschlagen haben sollten und die Anklagepunkte gegenüber dem Chemiker wurden erweitert, denn er soll Tabak verfälscht. Damit wäre er vielleicht davongekommen, allerdings hatte man den Vorwurf, dass er Feinde der Republik mit Geld unterstützt haben soll, oben aufgesattelt. Wer das in solchen Zeiten in seiner Anklageschrift liest, die ihm unmittelbar vor Prozessbeginn vorgelegt wurde, der kann gewiss sein, dass er sein Leben bald zu beenden hat.
Was den Tabak anging, lagen die Ankläger nicht ganz falsch: Lavoisier hatte herausgefunden, die man Schmugglern nachweisen konnte, dass sie den Tabak mit Asche streckten. Aber er fand dabei auch heraus, dass durch den Zusatz von Asche und kleine Mengen von Wasser, der Geschmack verbessert werden konnte. Diese Qualitätsverbesserung wurde ihm nun vorgeworfen.
Das ändert nichts daran, dass die Angeklagten in einem Schauprozess politischer Natur verurteilt wurden.
Die wenigen Absätze über Antoine Laurent de Lavoisier an dieser Stelle werden dem Mann in keiner Weise gerecht. Die Bedeutung hat sein Freund Joseph-Louis Lagrange nach der Hinrichtung des 51-jährigen mit den Worten zusammengefasst:
Sie brauchten nur einen Moment, um diesen Kopf abzuschlagen, aber hundert Jahre genügen vielleicht nicht, einen ähnlichen hervorzubringen.
Er starb am 8. Mai 1794 auf dem Place de la Concorde an einer zu der damaligen Zeit sehr gängigen Todesursache: der Guillotine. Immerhin bekam seine Frau – heute wirkt es befremdlich, aber er hatte im Alter von 28 Jahren die damals dreizehn Jahre alte Marie Anne Pierette Paulze geheiratet, die ihn um 42 Jahre überlebte – ein Teil des Vermögens zurück, als die Steuerpächter rehabilitiert wurden. Denn eigentlich hatten diese nicht zu wenig gezahlt, sondern zu viel. Ein Happyend ist das trotzdem nicht.
Weiter geht's ...
Nun sollte man die Straße spätestens hinter dem Wirtschaftsministerium verlassen, die Arena umrunden und in den dem anschließenden Parc de Bercy begeben. Dort ist es nett. An deren Ende kommt man zu einem Quartier, in dem sich eine Vielzahl von Geschäften und Restaurants befinden, die den Lagerhausstil von damals widerspiegeln. Das sind die Reste von dem, was früher übergeblieben ist.
Einer speziellen Klientel gab das Viertel polizeiintern seinen Namen. Maigret erzählt seiner Frau an der Stelle, dass man Betrunkene »Bercys« nannte.
Sind Sie, geneigte Leser:innen, am Fluß entlang gegangen und haben dort tatsächlich ein Platz gefunden, um sich hinzusetzen, dann schlagen sie einmal das Buch auf und lesen den Beginn von Kapitel 7.
»Sie waren am Quai de Bercy, wo es an diesem Nachmittag im Schatten der Bäume so angenehm und still war wie auf der Promenade einer Kleinstadt.«
Blick auf den Quai des Carrières in Charenton
Ich verspreche Ihnen, Sie werden in hysterisches Kichern ausbrechen. Denn heute ist nichts mit Ruhe! Sie sitzen an einer sechsspurigen Straße und der von Verkehr gefüttert wird, der von einer Autobahn kommt. Um diese weiter zu genießen, sollten sie in Richtung Charenton-le-Pont gehen. Aber werfen Sie ruhig noch einen Blick auf die andere Seite des Flusses – man schaut auf die Bibliothek François Mitterrand, und das ist sehenswert.
Sie kommen an einem aufgegebenen Güterbahnhof, der mit »Gare frigorifique de Bercy« beschildert ist, vorbei. Bei den Recherchen für den Artikel habe ich nicht viel gefunden, was mit diesem Namen verbunden ist. Der eigentliche Name lautet »Gare de la Rapée«. Der Bahnhof wurde 1862 erbaut und über diesen wurden die Weinlager von Paris-Bercy bedient. Als die Depots hundert Jahre später aufgegeben wurden, war das auch das Ende dieses Umschlagplatzes. In dem Areal haben sich diverse Kunsthandwerker niedergelassen. Diese schätzen an dem Gebäude, dass es eine gute Schalldämmung hat, sodass Anwohner durch ihre Tätigkeit nicht belästigt wird. Eine erste Quelle, die ich fand, gab zu verstehen, dass das Gebäude als Bahnhof zwar »aufgegeben« wurde, aber was nicht heißen würde, dass das Gebäude »verlassen« wäre. Eine gewisse Attraktivität hat das Areal bei Sprayern, die sich jedoch damit abfinden müssen, dass sie nicht ungestört ihrer Kunst nachgehen können – denn Gebäude werden bewacht. An dieser Stelle fand sich die Info, dass man sich beeilen solle, wenn man das Ensemble in seiner Form betrachten möchte, denn es stünden Veränderungen an. In einem frühen Stadium der Planung wurde ein kompletter Abriss geplant, aber die jetzigen Bewohner wehren sich dagegen und so wird jetzt eine vollständige oder teilweise Erhaltung in Erwägung gezogen. Es gibt auch Gedankenspiele an der Stelle ein Museum einzurichten. Wenn man dort vorbeigeht, dann besucht man vielleicht die Kunsthandwerker. Ich habe das damals nicht gemacht, da der Hintergrund nicht bekannt war.
Aber der Quai de Bercy findet dort sein Ende. Ein Relikt der Thierssche Stadtbefestigung befindet sich hinter der Brücke: die Bastion Nr. 1.
Die dritte Etappe: Quai de Charenton
»Als er dann aufstand, führte er Madame Maigret nicht zum Boulevard Richard-Lenoir, sondern zum Quai de Charenton, wo Paris plötzlich wie eine Vorstadt wirkt. Er hatte die breiten Entladequais, vollgestellt mit Tonnen und allem möglichen Material, und die zwischen neuen Häusern stehenden grauen Gebäude, die an das alte Paris erinnerten, schon immer gemocht.«
Ich könnte mir vorstellen, dass mir das auch gefallen hätte. Allein: Davon ist nichts mehr über. Die Ufer-Seite dominiert eine Autobahn. Auf der anderen befinden sich moderne Häuser. Sieht man sich die alten Bauten in den Abbildungen an und stellt sich vor, wie das aussehen würde, wenn es renoviert und nicht abgerissen worden wäre, dann befällt einen eine gewisse Wehmut. Ich würde demjenigen, der sich die Tour bis nach Charenton-le-Pont antut, den Goldenen Maigret-Tapferkeitsorden am purpurnen Bande verleihen.
Maigret überlegte, warum sie nie hierher gezogen waren. Wo es so beschaulich gewesen war. Ich will das kurz zusammengefassten: Wenn Simenon sich das für das Paar ausgedacht hätte, wäre es für die pilgernden Maigret-Fans eine Katastrophe. Wir ständen jetzt vor einem Hochhaus oder einem ALDI oder sonst irgendetwas und würden flennen. Mit dem Boulevard Richard-Lenoir ist alles in bester Ordnung!
Dass es Veränderung schon zu Maigrets Zeiten gab, konstatiert der Kommissar selbst. Madame Maigret spielte mit einer Frage auf die Geschichte um Maigrets Toten[MUST] an, als sie ihn fragt, ob er in der Gegend nicht einmal einen Urlaub Fall gehabt hätte, bei dem er Tage in einem Restaurant verbracht hatte. Gemeint ist das »Au petit Albert« und Maigret antwortete:
»Das war da hinten, wo du die beiden Zapfsäulen siehst. Das Restaurant ist inzwischen eine Tankstelle.«
In der Gegend spielte in »Maigrets Pfeife«[MP] eine Rolle und so weißt der Kommissar seine Frau auf ein Gebäude hin.
»Siehst du das kleine Gebäude, das gerade abgerissen wird? Dort wohnte ein junger Mann, der eines Tages mit seiner Mutter in mein Büro kam und mir eine meiner Pfeifen geklaut hat.«
Auch die Bar, die die beiden im Anschluss aufsuchten, war schon einmal das Hauptquartier von Maigret gewesen. Hier wird Maigret durch die Zeitung und das Radio von den aktuellen Entwicklungen überrollt. Es ist klar, dass sie erkannt worden waren und die Reporter sind dahinter gekommen, dass er nicht da war, wo man ihn vermutet hatte: in Les Sables d’Olonne.
Der Weg zurück
Madame Maigret muss den ganzen Weg nicht zurücklaufen, sondern Maigret ruft ein Taxi. Mit dem fahren sie zurück nach Hause. Madame Maigret wird abgesetzt und Maigret begibt sich in die Nähe des Quais.
Wie würde meine Route aussehen? Hinter der Autobahn-Brücke ginge ich parallel zum Quai de Charenton am Wasser entlang bis zur Pont Nelson Mandela. Der Weg heißt Chemin de l'Ancienne Écluse und gewinnt keine Attraktivitätspreise. Es ist nicht besonders leise und es haben sich dort Obdachlose angesiedelt, aber immerhin ist man am Wasser.
Ich bin den Weg so schon gegangen, allerdings habe ich keine Erinnerung daran, wie genau ich nach der Pont Nelson Mandela zurück in die Stadt gelaufen bin. Man hat von dort einen guten Blick auf das Wirtschaftsministerium und kommt am Gare d'Austerlitz vorbei. Da ich fotografische Beweise sowohl von einem Blick über die Seine wie von dem Bahnhof habe, bin ich auf jeden Fall dort entlang gekommen gekommen.
Auf dem weiteren Weg kann entweder eine kleine Verschnaufpause im Jardin des Plantes einlegen oder es gibt die Möglichkeit einer Pause in einem Eisladen auf der Île Saint-Louis – oder man genießt beides.
Von dort geht es zum Place Saint-Michel, Maigret hatte sich an dem Platz vom Taxifahrer absetzen lassen. Er begab sich zum Quai de Grands Augustins, wo er ein normannisches Restaurant aufsuchte und seine Dienststelle im Blick behielt. Wer das unbedingt an der Stelle nacherleben möchte, hat die Wahl zwischen einem Lokal der gehobenen Klasse in dem die Spaghetti 44 Euro kosten, das doppelte mit Kaviar. Oder ein paar Meter weiter gibt es ein Bistro, welches für den kleinen Geldbeutel gedacht ist. Normannisch scheint mir weder das eine noch das andere zu sein.
Finale
Place du Châtelet
Maigret ging zurück zum Place Saint-Michel und dann über die Pont Saint-Michel in Richtung Place du Châtelet. Ich habe das ein wenig abgewandelt und führe den Spaziergang über die Pont Neuf. Damit bekommen die geneigten Mitwander:innen die Gelegenheit, am Quai des Orfèvres vorbeidefilieren. Dann geht es an der schönen Saint-Chapelle vorbei zum Châtelet.
Der Kommissar nahm dort ein letztes Bier, bevor er sich nach Hause fahren ließ. Man hätte sich ein Bierchen bei der Gelegenheit auch verdient. Schließlich hat man, wenn man die Tour komplett läuft, etwa vierzehn Kilometer hinter sich gebracht.
Die Strecke lässt sich gewiss gut bewältigen, da es mittendrin immer wieder gute Gelegenheiten gibt, sich zu erholen. Sei es in Form von Parks und natürlich in Form von Eisläden.