Bildnachweis: Schwedische Heilgymnastik - (Lizenz: Public Domain)
Der Mann am Strand
Der Erzähler in dieser Geschichte war nicht auf die Insel gekommen, von Porquerolles ist die Rede, um sich verzaubern zu lassen. Drei Frauen waren in kürzester Zeit verschwunden und seinen Kommissar G7 hatte man kommen lassen, um die Affäre zu klären. Unser Berichterstatter stolperte über den Strand und beobachtete dabei einen Mann, der sich in einer Art Sport übte.
Fußballer und Leichtathleten werden vielleicht die Nase rümpfen, wenn sie hören, wie dieser Strandgast sich sportlich betätigte. Mein Begriff von Sport dagegen ist sehr weit gefasst und endet kurz vor dem Anheben eines Bierkruges.
Ein junger Mann mit Brille verrichtete ganz für sich Übungen der Schwedischen Heilgymnastik.
Hätte Simenon nur geschrieben, dass sich ein Mann am Strand befunden hätte, der sein Vergnügen in Gymnastik gefunden hatte und »rumhampelte« – für mich wäre die Sache erledigt gewesen. Umgehend. Nächster Satz, nächstes Abenteuer. Die Verrichtungen des Mannes mit den Wörtern »schwedisch« und »Heil« anzureichern, machte die Angelegenheit jedoch derart spezifisch, dass Ignoranz meinerseits keine Option war.
Über den Gymnasten erfahren wir nicht mehr. Er tauchte mit dem Satz auf und verschwand mit diesem kleine Passus gleich wieder aus der Geschichte. Ein paar Annahmen lassen sich über die Person treffen.
Es war kein Einheimischer. Das Milieu, welches von Simenon geschildert wird, lässt nicht darauf schließen, dass die zahlreich vorhandenen Fischer, Landwirte oder gar das Personal der gastronomischen und touristischen Einrichtungen, sich zum Strand begeben hätten – schon gar nicht, um Gymnastik welcher Art auch immer zu betreiben. Wenn Sport dann war es Boule, Entspannung wurde im Bistro gesucht.
Obwohl das touristische Publikum auf der Insel damals schon international war, lässt sich daraus nicht der Rückschluss ziehen, dass es sich um einen Ausländer handelte. Die schwedische Heilgymnastik war sowohl an französischen Schulen präsent wie auch in Zeitschriften. Sogar einen Thriller mit dem Namen »Gymnastique suédoise« entstand in der ersten Hälfte es 20. Jahrhunderts, allerdings nicht von Simenon.
Turnvater Ling
Die Briten waren um 1800 herum im Krieg mit ihrem Lieblingsfeind Frankreich. In London hatte aber nicht nur die bösen Nachbarn fest im Blick, sondern schaute auf ganz Europa. Im Königreich war man der Meinung, dass sich im Norden Europas eine antibritische Koalition gebildet hatte, der neben Russland und Preußen auch Schweden und Dänemark angehörten. Zwar hätte das keinen unmittelbaren Einfluss auf die Auseinandersetzung mit Frankreich gehabt, aber vielleicht einen mittelbaren.
Einige der genannten Staaten beharrten auf ihrer Neutralität und waren bereit, sich einem Konflikt zu stellen. In London hätte man lieber ein »Wir stehen zu euch und mischen uns auf keinen Fall ein!« gehört. Da das nicht vernommen wurde, sandten die Briten eine Flotte Richtung Dänemark, um die Kopenhagener Herrschaften zu disziplinieren. Diese waren nicht angetan von den Einschüchterungsversuchen und so kam es zu einer Seeschlacht, die für die Briten unter Lord Nelson besser ausging als für die Dänen, die im Anschluss keine Flotte mehr hatten. Die Schweden waren daraufhin wesentlich kooperativer.
Bei dieser Seeschlacht war Pehr Henrik Ling mit von der Partie. Er diente als Offizier bei der Marine bei den Dänen. Der Schwede hatte in seiner Heimat Theologie studiert, was in der Familie lag – sein Vater war Pfarrer und sein Stiefvater auch. Wer einen solch direkten Draht nach oben hat, der sollte auf dem kurzen Dienstweg ein gutes Leben herausschlagen können. Bei Ling hatte das offenbar nicht geklappt: Sein Vater starb, als er vier Jahre alt war. Seine Mutter heiratete den Mann, der Lings Vater auf der Stelle nachfolgte … und starb dann selbst.
Immerhin war sein Leben derart gesichert, dass ihm ein anständiger Schulbesuch vergönnt war und er später studieren konnte. Nach dem Studium ging der junge Mann zuerst nach Kopenhagen, bevor er andere Teile von Europa bereiste. In Deutschland, so nimmt man an, hatte er das erste Mal Kontakt mit dem Turnen. Das soll, mutmaßen manche, die Inspiration für sein späteres Wirken gewesen sein.
Lustig war das Leben, das Ling in der Zeit führe, nicht. Die Armut, das fehlende Essen – all das zerrte an seinen Kräften und seiner Gesundheit. Zurück blieben zahlreiche Beschwerden ein, beispielsweise Rheuma. So kann es als Glücksfall betrachtet werden, dass dem Schweden zu Ohren kam, dass zwei französische Einwanderer in Kopenhagen eine Fechtschule eröffnet hatten. Ling begab sich nach Kopenhagen, um diesen Sport zu studieren.
Der junge Mann war ein ausgesprochenes Naturtalent. Erfreut konnte er feststellen, dass das Fechten auch einen positiven Einfluss auf seine Gesundheit hatte. Nach seiner Ausbildung wurde er Fechtmeister an der Universität von Lund. Er brachte den jungen Leuten seinen Sport bei und darüber hinaus auch die Sprachen, die er auf seinen Europa-Reisen gelernt hatte. Selbst absolvierte er Kurse in Anatomie und Physiologie – er wollte herausbekommen, warum der Sport einen förderlichen Einfluss auf seinen Gesundheitszustand gehabt hatte.
Aller guter Dinge sind drei, heißt es. Mit dem Sport und der Gesundheit hatte Ling zwei Sachen in petto, die in interessierten und die er vermitteln konnte. Um sein »Lehrpaket« abrunden, nahm er Poesie mit auf. Ling hatte ein Faible für die nordische Mythologie und sah in der Kombination aus Körperertüchtigung und Dichtkunst einen Weg, die Schweden in die Tradition der alten Nordländer zu stellen. Das hört sich nationalistisch und völkisch an – ja, das war auch so gemeint.
Sein Versuch, 1812 ein gymnastisches Institut in Stockholm mit Hilfe von Staatsgeldern zu gründen, schlug im ersten Anlauf fehl: Die Beamten wollten ihm kein Geld geben und die Ablehnung dürfte ihm sehr schroff vorgekommen sein. Man habe, hieß es sinngemäß, genügend Artisten; mit Staatsgeld müssten keine neuen ausgebildet werden. Die Intention des Lehrers war an der Stelle nicht verschwunden.
Ein Jahr später hatte sich sein Renommee durch seine Arbeit als Fechtmeister soweit gesteigert, dass die Finanzierung gelang. Ling gründete sein Gymnastisches Zentralinstitut in Stockholm – eine Institution, die heute noch als Gymnastik- und Sporthochschule existiert.
Die Urur....Großväter
Wie zuvor schon erwähnt, kam Ling schon vor seiner Fecht-Offenbarung in Kontakt mit turnerischen Übungen. Das Prinzip durch Bewegung Linderung für körperliche Unbill zu erzielen, war schon zu seiner Zeit ein sehr altes Prinzip. Schaut man sich an, wie Ling seine Gymnastik aufbaute – mit medizinischen, pädagogischen, ästhetischen und militärischen Aspekten –, so wird deutlich, dass diese Aspekte auch in den ältesten Kulturen und ihren Ritualen zu finden waren. Schon damals wurde getanzt, gespielt und, ich formuliere es mal ganz salopp, Sachen mit dem Körper gemacht. Teile dieser Gesichtspunkte finden sich auch im Yoga und im alten chinesischen Cong-Fou. Natürlich gab es einen Unterbau, mit dem erklärt werden sollte, warum diese Übungen sinnvoll sind und man bestimmte Sachen im Leben vielleicht sein lassen sollte. Aber weit entfernt war das nicht von der Lehre Lings.
Der übrigens versuchte die Poesie in sein Gesamtkonzept aufzunehmen.
Der Begriff der Gymnastik kommt aus dem Griechischen und es gibt zahllose Belege für die sportlichen Betätigungen der Griechen. Homer beschrieb sie in seinen Werken und vergessen werden sollte nicht, dass sowohl die olympische Idee aus dieser Zeit stammte wie auch quälende sportliche Verrichtungen wie der Marathon. (Gut, damals wurde es geringfügig anders praktiziert als das heute der Fall ist. Schließlich hatten sie auch keine großen Sofagetränke-Konzerne, die ihre Veranstaltungen sponserten.)
Auch die Römer hielten die Gymnastik hoch und einer der bekanntesten Ärzte der Antike verfasste ein eigenes Buch darüber (»Gymnastica et de sanitate tuenda«), in dem sich viele Übungen finden, die einen therapeutischen Nutzen haben sollen.
Das Mittelalter war für die Gymnastik nicht förderlich. Die Medizin wurde geprägt durch Mönche, die den Glauben vor den Sport und Bewegung setzten. So geriet die Gymnastik in der Medizin ins Hintertreffen.
Unlängst berichtete ich über den berühmten französischen Mediziner Ambroise Paré, der die französische Chirurgie (und einiges mehr) revolutionierte. Paré hatte die Gymnastik als Therapie-Option schon im 16. Jahrhundert wieder ins Spiel gebracht und etwa zweihundert Jahre später veröffentlichte der Arzt Joseph Clément Tissot ein Plädoyer für gymnastische Übungen. Sein Verdienst war es, damit auch ein ein anatomisches Fundament zu begründen. (Wer das Buch in seiner Buchhandlung bestellen möchte, für den habe ich hier den exakten Titel: »Gymnastique Medicinale et Chirurgicale ou essai sur L’utilité du mouvement, ou des differèns exercises du corps, et du repos dans la cure des maladies«. Ich stelle hier einmal die steile These auf, dass wenn die ersten IT-Anwendungen Buchhandels- und Bibliothekskataloge gewesen wäre, hätte es in der Folge niemals Probleme mit Längenbeschränkungen von Feldern gegeben.)
Hierzulande kamen wir auch auf den Gymnastik-Trichter: Halle war recht spät dran mit der Gründung einer Universität, aber sie setzten mit Friedrich Hoffmann einen Mann auf den ersten Lehrstuhl für Medizin, der sich sehr für Gymnastik und Massage begeistern konnte. Der zur gleichen Zeit (18. Jahrhundert) lebende Lorenz Heister, der die Chirurgie aus dem Friseurladen in die wissenschaftlichen Hörsäle trug und als Begründer der »ernsthaften« Chirurgie in Deutschland gilt, publizierte zu gymnastischen Therapien, mit denen man einer Rückgratverkrümmung begegnen konnte.
Ling mochte mit seiner Schwedischen Heilgymnastik eine neue Ausrichtung geprägt haben, aber seine Ideen kamen nicht aus dem Nichts. Und vielleicht hatte er sich nicht nur in Deutschland einiges abgeschaut, sondern auch seinen dänischen Nachbarn auf die Finger geschaut. Dort gab es einen Mann, dessen Biografie der von Ling erstaunlich ähnelt: Franz Nachtegall. Dieser wurde ein Jahr nach Ling geboren und studierte auch Theologie. Allerdings musste er sein Studium abbrechen, als der Vater starb. Nachtegall nahm Unterricht bei einem französischen Fechtmeister und studierte die Ausführungen zur Gymnastik von Johann Christoph Friedrich GutsMuths. 1798 gründete er den ersten Turnverein der Welt und ein Jahr später eine private Turnschule. Nachtegall brachte 1804 die Gymnastik zum Militär und war daran beteiligt, dass Dänemark 1814 als erstes Land der Welt den Schulsport auf den Weg brachte. (Hätte ich das früher gewusst, so hätte ich meine Sport-Abscheu während der Schulzeit besser adressieren können. So waren es Flüche und Verwünschungen ohne speziellen Adressaten.)
Die vier Säulen plus ein Bonus
Alte Fotos, die ich von der schwedischen Heilgymnastik betrachtete, unterstreichen die Beschreibungen dieser Praktik. Man sieht darauf Kinder am Strand, wie sie Gymnastik absolvieren. Das entsprach der »Medizinische Gymnastik«, mit der der Körper des Menschen gekräftigt werden und ein Plus für das Allgemeinbefinden bringen sollte. Allerdings spielt in dieses Bild auch die »Ästhetische Gymnastik« mit hinein, die Eleganz in die Angelegenheit bringen sollte und Schönheit.
Auf einem anderen Bild sind Schulklassen auf einem Pausenhof zu sehen. Das Gesehene lässt sich gut mit den beiden anderen Säulen der Theorie verbinden: Zum einen sollte über die Pädagogische Gymnastik das Verständnis für Disziplin und Gehorsam gelehrt werden – für ältere Patienten fiel dieser Aspekt wohl weg. Zum anderen ging es um die Wehrgymnastik, mit der die jungen Leute auf den Dienst in der Armee vorbereitet werden sollten.
Wie kann man sich die Übung des junge Mannes am Strand von Porquerolles nun vorstellen? Er hatte sich in eine Ausgangsposition zu bringen und diese war zu halten. Dann wurden ein oder mehrere Körperteile bewegt, um schließlich wieder zurückgeführt zu werden zu der Ausgangsposition. Vielleicht hört sich das jetzt so simpel an, weil uns solche Bewegungsabläufe vertraut sind. Mich erinnerte das an viele Übungen, die Krankengymnasten versucht haben mir beizubringen. Oder aber an die klassischen Fecht-Bewegungen, die man bei Sportübertragungen sieht. In der gleichen Situation am Strand könnte ich nicht sagen, dass es sich um die Schwedische Heilgymnastik handeln würde.
Die Aufzeichnungen, die Ling hinterließ, enthalten auch Hinweise auf bestimmte Griffe, die wir heute als Massage interpretieren. Der Schwede hatte diese Begrifflichkeit in seinen Texten nicht verwendet. Sie werden auch nur rudimentär ausgeführt und gelten dennoch als Inspiration für die von Albert Hoffa und Johann G. Mezger beschriebenen typischen Handgriffe in der Massage.
Sein Großvater soll über hundert Jahre alt geworden sein und neunzehn Kinder gezeugt haben. Das hohe Alter ist für diese Zeit durchaus beeindruckend. Die Anzahl der Kinder klingt für uns erstaunlich und würde heute jemand mit einer solchen Scharr aufwarten, wären ihm Patenschaften von Bundespräsident, Bundeskanzler und Bundestagspräsidentin sicher. So können wir Respekt bezeugen, dass Lings Großvater erstaunlich zeugungskräftig gewesen war – er wird die neunzehn Kinder jedoch nie alle um sich versammelt gesehen haben. Dieser Großvater war Lings Vorbild. Allerdings verstarb er trotz seiner Sportlichkeit mit 62 Jahren früh und hinterließ zwei Kinder. Sein Sohn führte mit anderen Schülern sein wissenschaftliches Werk fort.
Seine Anhängerschaft teilte sich nach dem Tod des Meisters: Die einen sahen in der Schwedischen Heilgymnastik einen Heilsbringer und wollten damit alles und jeden behandelt wissen, während die andere Fraktion seine Lehre als Ergänzung zur Schulmedizin sah. In Deutschland wurde die Lehre Lings erst nach seinem Tod bekannt, eine einheitliche Meinung gab es dazu nicht.