Lafayette 1930-1938

Die Mitreisenden


Das Schiff war bemerkenswert: Die Passagiere konnten die Temperatur in ihren Kabinen selbst regeln. Waschbecken und Duschen waren größer als je zuvor. Ins Auge fiel den Betrachtern auch, dass der Schornstein des Schiffes der »Compagnie générale transatlantique«, sehr niedrig war, aber einen dafür sehr groß. Bemerkenswert war, dass viel Wert auf den Feuerschutz gelegt worden war.

Über zweitausend Passagiere konnte das Schiff aufnehmen. Dabei konzentrierte man sich auf Geschäftsreisende und Touristen. Das Geschäft mit den Migranten war für die Reederei nicht mehr wichtig (und war zu der Zeit zumindest in Frankreich auch schon wieder abflauend), deshalb profitierten von den Fortschritten in Sachen Komfort in der Tat alle Passagiere an Bord. Das Schiff wurde nach etwa einjähriger Bauzeit im Mai 1930 in Betrieb genommen und bediente die Linie Le Havre – New York. Acht Jahre später kam es im Heimathafen des Schiffes zu einem Unglück und das Schiff, das gerade in einer Werft gewartet worde, wurde dabei durch ein Feuer zerstört.

Passagier Nummer 19

An Bord der »Lafayette« befand sich auch Georges Simenon zusammen mit seiner Frau Tigy (Passagier 20). Den Unterlagen zufolge waren sie in den USA nur auf der Durchreise. Den Unterlagen der Emmigrationsbehörde kann man ein paar interessante Infos entnehmen: Zum einen residierte das Ehepaar zu der Zeit in Paris im Hotel Georges V. – das gaben sie als ihr Zuhause an. In New York planten sie auf ihrer Durchreise im Hotel Ritz zu nächtigen. Und es gab einen Auftraggeber für die Reise – das war der »Paris-Soir«.

In Le Havre waren sie am 12. Dezember losgefahren, und am 21. Dezember waren sie in New York angekommen. Sie hatten also das Vergnügen, New York in der Vorweihnachtszeit zu erleben.

Im Folgenden soll geschaut werden, was sich Interessante über die anderen vierundzwanzig Mitreisenden ermitteln ließ.

Passagiere 1 und 2

Als Beruf hatte Gaston Alatienne angegeben, dass er Hair-Dresser wäre. Lapidar könnte man sagen, dass er ein Friseur war. Nun gibt es solche Friseure und solche. Der normale Friseur schippert(e) nicht mit einem Dampfer über den Atlantik und ließ (oder lässt) es sich in einer Kabine dabei gutgehen. Also war der Mann vermutlich eher ein Designer oder ähnliches. Gibt es ein Indiz dafür? Nun ja, den Unterlagen der Einwanderungsbehörde nach war er in den Jahren 1930, 1933, 1934, 1937, 1938, 1947 und 1951 mit dem Schiff eingereist. Seine Frau Blanche, drei Jahre älter als er, war oft mit ihm unterwegs – aber nicht immer. So war sie noch 1950 und 1954 nach Frankreich gefahren.

Ihren Wohnsitz hatten sie in New York gehabt, denn dort sind sie auch gestorben – sie im September 1980, er zwei Jahre vor ihr im Dezember. Was machten Sie denn in Frankreich? Vielleicht betrachteten sie die Haarmode im alten Kontinent – oder, sie hatten die Eltern besucht. Der Vater von ihm wohnte in der Nähe von Montluçon. So ist es also gut möglich, dass die Besuche aufhörten, als die Eltern gestorben starben.

Einiges spricht dafür, dass es sich bei Gaston Alatienne um einen erfolgreichen Friseur handelte.

Passagiere 4 und 5

Ein Händler und seine Frau? Was sollte da schon herauszufinden sein – bei denen, die in der Liste mit einer ähnlichen Profession verzeichnet war, war es meist nichts. Aber für ihn lässt sich feststellen, wie alt er geworden ist, und bei ihr ist nun ihr Mädchenname gewiss. Ernesto Couttolenc Signoret wurde im gleichen Jahr wie Simenon geboren und zwar am ersten Weihnachtstag; er starb ein zwei Jahre vor seinem prominenten Mitreisenden am 10. April. Warum die Daten zu dem Mann so exakt vorliegen, für seine Frau aber nicht, ist schon komisch. Vielleicht ist sie ja noch nicht tot – sie wäre ja im Augenblick erst 110 Jahre alt. Offenbar hat das paar drei Söhne gehabt.

Passagier 10

Geboren wurde René Albert Gimpel 1881 in Paris. Sein späterer Job wurde ihm in die Wiege gelegt, denn er war in eine elsässich-jüdische Familie von Kunsthändlern hineingeboren worden. Auf der Einreiseliste war er mit der Berufsbezeichnung »Picture expert« aufgeführt – das gibt  nicht die ganze Wahrheit wieder: Er war ein Kunstexperte und -händler. Sein Vater Ernest Gimpel hatte in New York eine Dependance eröffnet, die er bis 1919 betrieb. In dieser Zeit hatten sie einen ganz großen Fisch an der Angel – die Auflösung der Sammlung Rodolphe Kann –, allerdings hatte eine noch größere Firma Interesse an diesem Deal, weshalb sie dieses Geschäft weiterverkauften. Die Duveen Bros. sollten nun die Organisatoren der Auflösung sein, die aber weiterhin auch von Gimpel und seinen Kompagnons betreut wurden. Es fiel auch bei der Gelegenheit noch etwas für die Pariser Kunsthändler ab.

Gimpel Junior war damals schon zwischen Europa und Amerika unterwegs, um den amerikanischen Kunstmarkt zu bedienen. Manch einer seiner amerikanischen Kunden wird ihn überlebt haben und wird vielleicht ein wenig pikiert gewesen sein, als er in dem postum veröffentlichten Tagebuch gelesen hat, was er über seine Kunden in den USA dachte: Sie wären wie »wie reiche Kinder, die ihre Spielzeuge zeigen«. So wundert es auch auch nicht, dass René Gimpel Wertschätzung für viele Museumsfachleute hegte, aber mit Verachtung auf die Spezialisten im Kunstmarkt schaute, die sich damit beschäftigten, Zertifikate für Kunstwerke auszustellen und Echtheit zu bezeugen.

Während des Zweiten Weltkrieges geriet Gimpel in zweifacher Hinsicht in den Fokus: als Jude und als Widerständler. Sein Besitz wurde schon 1942 beschlagnahmt und seine Erben haben immer noch damit zu tun, an den damals beschlagnahmten Besitz zu kommen – und wer jetzt an die deutschen Museen und die Regierung, oh nein, sie führen ihre Gefechte mit den französischen Behörden. Bevor nun aber ein »Haha!« kommt: Gestorben ist Gimpel im Konzentrationslager Neuengamme – er war schon dabei gewesen, seinen Mitgefangenen Englisch-Unterricht zu geben. Schließlich stand die Befreiung durch die Briten unmittelbar bevor. Bis zur Befreiung fehlten nur fünf Monate.

Das Geschäft wurde nach dem Krieg von seinen Söhnen in London und New York weitergeführt. 

Passagiere 12 und 13

Er, 47 Jahre alt, gab als Beruf »Schriftsteller« an. Sie, 38 Jahre alt, hatte keinen Beruf.

Sucht man nach seinem Namen … nichts.

Sucht man nach ihrem Namen … staunt man.

Allerdings bleibt es ein wenig vage und ich will nicht ausschließen, dass ich mich total verrannt habe. Da bin ich aber recht gelassen, denn dieses Risiko bleibt immer.

Fangen wir an: Aus seinem Alter gibt sich ein Geburtsjahr von 1887. Das würde ganz gut zu einem Mann passen, der Pierre Combret de Lanux hieß. Nur hatte er sich nicht als solcher in die Liste eintragen lassen, sondern nur als Pierre de Lanux. Die französischen Nationalbibliothek, und da bin ich einigermaßen froh, setzt die beiden Namen aber ebenfalls gleich. Dort wird nicht nur deutlich, dass de Lanux recht fleißig als Autor war, sondern auch als Übersetzer sehr produktiv war. An den Titeln seiner Bücher lässt sich sein Interesse an internationalen Beziehungen ablesen. Weshalb es nicht verwundert, wenn in manchen Quellen notiert ist, dass er auch als Diplomat tätig gewesen sein soll.

Im Simenon-Kontext auf jeden Fall interessant ist die Tatsache, dass der Mann Sekretär von André Gide gewesen war. Das wäre auf einer anderthalbwöchigen Reise, in der die beiden Männer Zeit in den Salons auf dem Schiff miteinander verbrachten haben dürften, auf jeden Fall ein Anknüpfungspunkt für ein Gespräch gewesen sein.

Bei Simenon weiß man aber nie … vielleicht hätte er er vielmehr die Frau im Auge gehabt. Sie war als Elizabeth de Lanoux eingetragen, bekannter wurde sie aber unter dem Namen Eyre de Lanux und geboren als Elizabeth Eyre. Die Amerikanerin machte sich den 1920er Jahren in Paris einen Namen als Designerin von Möbeln und Teppichen im Art-Deco-Stil. Später schrieb sie auch Kinderbücher. Daneben malte sie auch und sie wurde einigermaßen bekannt, durch ihr sehr freies Liebesleben. Nicht nur, dass sie offenbar nicht monogam war; sie suchte sich ihre Nebenbeschäftigung sowohl unter Frauen wie unter Männern. So machte sie sich einen Namen als Liebhaberin von Natalie Barney. Schaut man sich Bilder aus der damaligen Zeit von Eyre de Lanux an, sieht man eine bildhübsche Frau – es würde mich befremden, wenn Simenon eine solche Gelegenheit verpasst hätte.

Der Zweifel, der bei dieser Zuordnung auftrat, lag an ihrem Alter. In den Emmigrationsunterlagen gab sie ihr Alter mit 38 an. Demnach wäre sie 1896 geboren worden. Tatsächlich wird ihr Geburtsjahr mit 1894 angegeben. Und so wurde 1996 auch vermeldet, sie sei im Alter von 102 Jahren gestorben. Sie starb in New York, wo sie nach dem Tod ihres Mannes 1955 zurückgekehrt war.

Ach ja, und warum hatte sie bei ihrer Einreise in der USA als Beruf »none« angegeben?

Passagier 15

Der Herkunft von Philippe Montégut lässt sich gut nachweisen, was ja auch schon was ist. Das liegt daran, dass der damalig Siebenundzwanzigjährige als »Absender« die Adresse seiner Mutter – Avenue d'Eylau – angab und als »Empfänger« seine Tante B. J. d'Estreillis. Interessant ist dabei der Name und die Adresse, die er angegeben hat und damit bekommt man auch recht schnell Ergebnisse in Zeitungsarchiven. Verwiesen wird auf eine Madame Sylvie Montégut und die Tatsache, dass sie zusammen mit einem Herren, der gar keine Rolle spielt, und Jeanne d'Estreillis eine Parfümfabrik gründen wollte. Die beiden Frauen waren Schwestern und hatten sich in der Pariser Modewelt schon lange ienen Namen gemacht. Sie waren als die Boué Sœurs bekannt bekannt und zwischen 1899 und 1957 aktiv gewesen. Als Firmennamen hatte sie ihre Geburtsnamen verwendet.

Um 1915 herum ging Jeanne nach New York und eröffnete dort eine zweite Boutique. Bekannt waren sie Boué Soeurs war bekannt für die Herstellung von aufwendig gestalteten Outfits mit einem sehr weiblichen Stil. Typische Merkmale ihrer Designs waren feine Spitzen, aufwendige Stickereien, Bänder sowie gewebte Stoffe aus Gold und Silber. Dafür musste man dann schon einige Taler hinlegen.

Während es leicht war, herauszufinden, um wen es sich bei Mutter und Tante handelt, war es schwieriger, den weiteren Lebenslauf von Philippe Montégut zu verfolgen. Da nur das Alter aus den Emmigrationsunterlagen bekannt ist, aber nicht das exakte Geburtsdatum ist eine Zuordnung schwierig. Gewisse Indizien weisen darauf hin, dass es sich um Philippe Jean Montégut handelt. Demnach war der Mann Absolvent der Rechtswissenschaften an der Sorbonne, diente während des Zweiten Weltkriegs als Leutnant in der französischen Armee. Nach dem Krieg begann er eine journalistische Karriere bei der Agence France Presse, wo er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1972 tätig war. Anschließend arbeitete er als Übersetzer für die U.S. Information Agency und als Französischprofessor an der Pace University. In dem Nachruf auf den Mann wird als Tochter eine Diane erwähnt. Eine Diane Montegut gibt sich in einem Beitrag für ein Mode-Museum als Enkelin zu erkennen und berichtet, dass ihr Vater Philippe ihr viele Geschichten über ihre Großmutter (wie auch die Großtante) erzählt hätte. Darin wird auch erwähnt, dass der modische Nachlass seiner Mutter und Tante an das New Yorker Metropolitan Museum gegangen ist.

In einem weiteren Beitrag auf der gleichen Seite meldete sich auch eine Enkelin der Baronin und erwähnt, dass Sylvie Montégut im Jahr 1953 an Krebs starb (im recht hohen Alter von 81 Jahren), vier Jahre später im gleichen Alter verstarb die Baronin – Philippe übertraf sie mit 98 Jahren übrigens um einiges an Lebensjahren. Weiter berichtete diese, dass die kreative Kraft in dem Unternehmen Sylvie gewesen war, während sich Jeanne mehr um das Geschäftliche kümmerte.

Der Vater von Philippe, der im Herbst 1933 starb, hieß übrigens auch Philippe Montégut.

Passagier 16

Mit Passagier 16 war es recht einfach. Der Beruf von Jacques Pillois war angegeben und ausreichend selten, dass sich Spuren finden konnten. Und in der Tat hat der Komponist Spuren hinterlassen und man kann sich Teile seines Werkes noch bei Spotify anschauen.

In der Wikipedia wird er mehrmals mit seinen Werken erwähnt, Pillois selbst wird jedoch nicht mit einem Artikel gewürdigt. Der Komponist wurde 1887 in Paris geboren. Nach der Schule studierte er Harmonielehre bei Louis Vierne und Komposition bei Charles-Marie Widor. In einem frühen Beitrag über den Komponisten heißt es, dass wenn das Wort »zart« auf das Werk von jemanden verwendet werden sollte, dies Pillois wäre. Erwähnt wird in diesem Zusammenhang eine Komposition mit dem Titel »L'Anémone et la Rose«.

Er unterrichtet von 1920 bis 1928 am amerikanischen Konservatorium in Fontainebleau bevor er im Anschluss einen Lehrstuhl für Harmonie und Komposition am Smith College innehatte. Zehn Monate im Jahr verbrachte er in den Vereinigten Staaten, womit auch erklärbar ist, warum er an Bord der »Lafayette« war: Er war auf dem Weg zu seiner Frau nach Greenwich in Conneticut. Ganz stimmig wirkt das Ensemble an Informationen nicht – das College liegt in  Northampton, was von dem Wohnort etwa zwei Stunden entfernt liegt (und die Berechnung basiert auf den jetzigen Straßenverhältnissen und den heutigen Geschwindigkeiten).

Während im November und Dezember diverse Meldungen in französischen Zeitungen zu finden waren, dass es Aufführungen seiner Werke gab und ebenso vermeldet wurde, dass der Komponist sich demnächst wieder zurück nach Amerika reisen würde, gab es Mitte Januar 1935 die Meldung, dass der Musiker verstorben wäre. Er wäre am 3. Januar unerwartet an einer Embolie verschieden.

Passagier 23

Unglaublich! Sucht man nach dem Namen »Malwine Klausner« im Internet gibt es überhaupt gar keine Ergebnisse. Einerseits gibt es eine Reihe von jüdischen Familien (zum Beispiel eine litauische Linie, der auch Amos Klausner – bekannt geworden als Amos Oz – entstammte). Auch soll es in Berlin diverse Stolpersteine geben, die den Namen aufweisen – ein Hinweis auf die Verbreitung des Namens unter der deutschen jüdischen Bevölkerung in den 1930er- und 1940er-Jahren. Andererseits ist der Familienname auch in Österreich präsent – beispielsweise gab (gibt?) es eine Unternehmen in der Holzindustrie, die diesen Namen trägt, und mit Hubert Klausner auch einen österreicherischen Politker, der ein hohes Tier in der NSDAP war.

Der Bezug zu Österreich liegt bei dem angegebenen Wohnsitz Wien natürlich näher als eine polnische, pommersche oder lettische Herkunft. Andererseits handelt es sich bei der Frau um eine geborene Wahl, und sie war auf der Reise nach New York, um ihren Ehemann zu treffen.

Malwine ist schon ein interessanter Name, der heute kaum noch anzutreffen sein dürfte. Bekannte deutsche Dichter wie Goethe und Herder, verehrten die »Gesänge des Ossian« – vermeintliche altgällische Gesänge, die jedoch der Feder eines Beinahe-Zeitgenossen von Goethe und Herder stammten, und in der die Verlobte des Sohnes Oscars von Ossian den Namen Malvina trug – übertragen ins Deutsche: Malwine.

Passagier 24

Der Liberale Henri Groulx wurde 1888 in Montreal geboren. Nachdem College studierte er an der Université Laval in Montreal Pharmazie und schon im Jahr 1914 war er Apothekenbesitzer.

Groulx hatte politische Ambitionen und so wurde er 1939 erstmals in das Landesparlament von Quebec gewählt. Nach einem Posten als Provinzsekretär wurde er Gesundheitsminister in Quebec, dann Sozialminister und schließlich Minister für Gesundheit und Wohlfahrt – es sieht also so aus, als wären die beiden vorherigen Posten zusammgenfasst worden. Bis 1944 hielt er diese Regierungspositionen.

Im Juli 1952 wurde er erneut ins Parlament gewählt, starb aber in der Nacht nach seiner Wahl.

Warum er sich auf diese Reihe begeben hat – die vor seiner politischen Karriere stattgefunden hatte – lässt sich aus den öffentlichen Quellen nicht ermitteln. Zu der Zeit war er jedoch ehrenamtlich im Bildungsbereich tätig (Mitglied der Schulkommission der katholischen Schulen von Saint-Viateur-d'Outremont).