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Die verlorene Einheit
Bekanntermaßen war früher alles besser. Das Wetter war berechenbarer, alles war günstiger und die Jugend kannte noch Anstand und Sitte. Bürger:innen konnten sich jederzeit sicher fühlen, denn die Polizei hatte immer und alles im Griff! Respekt war kein Fremdwort. Wenn es so war, warum wurden die Tiger-Brigaden geschaffen?
Inspektor Lechat hatte den Fall »Marcel Pacaud« zugewiesen bekommen und untersuchte diesen auf Porquerolles. Er rief bei Kommissar Maigret in Paris an, weil ihm berichtet worden war, dass der ermordete Pacaud am Vorabend seines Todes mit seinem Freund Maigret prahlte. Gern hätte der Provinzpolizist nun gewusst, was ihm Maigret über den Toten erzählten konnte. Das war erst einmal nichts, aber das sollte noch werden.
Auch wenn seine Erinnerung gegenüber dem Ermordeten erst noch aufgefrischt werden musste, an den Inspektor konnte sich Maigret erinnern. Er hatte ihn kennengelernt, als er wegen für ein paar Monate nach Luçon versetzt worden war, welches in der Vendée liegt. Irgendwann ging es für ihn nach Paris zurück. Aber was geschah mit Lechat?
»Sie sind jetzt also bei der Bereitschaftspolizei von Draguignan […]«
Mich interessierten zwei Fragen: Wo genau lag Draguignan? Und was hat es mit dem hölzernen Begriff »Bereitschaftspolizei« auf sich? Der war mir gar nicht untergekommen, als ich über die Polizeien geschrieben hatte.
Die erste Frage lässt sich leicht beantworten. Es handelt sich um ein kleines Städtchen in der Provinz Alpes-Côte d'Azur und von dort aus hatte es der Polizist nicht sehr weit, um zu seinem Tatort zu kommen.
Schwieriger ist es mit der zweiten Begrifflichkeit – der Bereitschaftspolizei. Im französischen Original findet sich folgende Formulierung, mit der ich herausfinden konnte, um was für einen Trupp es sich handelt.
»Vous appartenez maintenant à la brigade mobile de Draguignan, bon [...]«
Die Banden
Von Abel Pollet wird berichtet, dass er schon mit neun Jahren seine ersten Expeditionen unternahm, um Sachen zu stehlen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Junge ein sehr merkwürdiges Verhältnis zu dem Eigentum anderer Menschen. Das sollte sich sein Lebtag nicht ändern. Sein Interesse wandelte sich ebenfalls: Anfangs stahl er Lebensmittel, später war er auf Geld und Gold aus.
Er wanderte ins Gefängnis. Vier Jahre hatte man ihm verpasst. Die Zeit hätte er nutzen können, um sein Handeln zu überdenken. Pollet verwendete diesen Aufenthalt jedoch, um sich Wissen anzueignen, wie Einbrüche und Raubzüge besser zu organisieren sind.
Im Alter von 1898 gründet er seine Bande, die – mit der Unterbrechung durch seine Gefängnisstrafe von 1901 bis 1904 – bis 1906 aktiv gewesen war. Vier Männer bildeten den Kern dieser Gruppe – mit dabei waren Auguste – sein Bruder –, Théophile Deroo und Canut Vromant.
Aktiv war die Bande im Norden von Frankreich bis nach Belgien hinein. Die ersten Mordversuche wurden ihnen im Sommer 1905 nachgewiesen. Die Leidtragenden ihrer Mordattacken überlebten. Hier schien sich schon ein Muster herauszustellen – denn die Bande suchte sich nicht junge, gesunde Opfer, ihre Ziele waren alte Menschen. Das erste Mordopfer sollte der 80-jährige Monsieur Lenglemetz, ein Kabarettist, werden. Seine Frau sollte schwer verletzt überleben – die Gangster hatten sie halb totgeprügelt, um herauszubekommen, wo das Vermögen versteckt war.
Ein ähnliches Muster gab es im Januar in der Nähe von Krombeke, als sie das Ehepaar Louzie – beide über 70 Jahre alt – überfielen. Diese hatten kein Gold, was die Banditen nicht glauben wollten und in Rage versetzten. Sie folterten das Paar, was die Ehefrau nicht überleben sollte. Keine drei Wochen später überfallen sie ein Ehepaar und deren Tochter und alle drei sterben.
Zu der Bande gehörten eine ganze Reihe von Komplizen – mindestens 23 weitere Angeklagte hatten sich bei dem Prozess zu verantworten. Zu behaupten, dass der Fall durch ausgefeilte Polizeiarbeit gelöst worden war, wäre vermessen. Ein Schwager zeigte im April 1906 Abel Pollet an, da er nicht in den Verdacht geraten wollte, Teil der Bande zu sein. Keine drei Jahre später verloren die vier Köpfe der Gang dieselben.
Am anderen Ende der Republik gab es eine Verbrecherclique – »Chauffeurs de la Drôme« genannt –, die die Gegend zwischen 1905 und 1908 terrorisierten. Offenbar fanden sie keine Erfüllung in ihren Berufen – bei Urbain-Célestin Liottard, einem Hilfsarbeiter, konnte man das noch verstehen, aber die beiden anderen – Octave-Louis David und Pierre-Augustin-Louis Berruyer – waren Schuster und sollten ihr Auskommen gehabt haben.
Trotzdem machten sie sich nachts auf den Weg, um Leute in ihren Häusern zu überfallen. Um diese dazu zu bewegen, zu verraten, wo sie ihre Besitztümer versteckt hielten, folterten die Chauffeure die Bewohner mit heißer Kaminglut. So ist der Name der Bagage offenbar ein Wortspiel, welches auf die Foltermethode anspielt – hätte sich ein Schuster ein Auto angeschafft, wäre das damals sehr auffällig gewesen. Zu der Bande gehörten noch vier andere, darunter eine Frau. Im Juli 1909 wurden die vier Haupttäter zum Tode verurteilt. Der noch nicht erwähnte Jean Lamarque befand sich auf der Flucht und konnte bei der Hinrichtung am 22. September nicht dabei sein. Er wurde im darauffolgenden Jahr gefasst – da der amtierende Präsident Fallières ein Gegner der Todesstrafe war, wurde er zu lebenslanger Zwangsarbeit begnadigt. Seine Kompagnons hatten dieses Glück nicht gehabt, da Fallières nicht stark genug war, sich gegen die öffentliche Meinung zu stellen.
Die »Chauffeurs de la Drôme« wurden von einem Kommissar der mobilen Einheit geschnappt.
Der Tiger
Georges Clemenceau
Credits: Public Domain
Georges Clemenceau war fünfundsechzig Jahre alt, als er 1906 zum Innenminister ernannt wurde. Er hatte Medizin studiert – eine Karriere als solcher schlug er nicht ein. Sein Weg führte ihn in die Politik, und wenn er dort nicht gerade aktiv war, betätigte er sich als Journalist und Zeitungsherausgeber. Dieser ständige Wechsel macht ihn schon interessant. Kann man sich vorstellen, dass jemand heutzutage ein Medium führt, dann Abgeordneter oder Minister wird, anschließend wieder unabhängig publiziert, um dann wiederum zurückzukehren an die Macht?
Clemenceau verbrachte einige Zeit in den Vereinigten Staaten, wo er als Lehrer arbeitete. Er gab Französisch- und Reit-Unterricht an einer Mädchenschule in Stamford (Connecticut), eine seiner Schülerinnen sollte seine Frau werden und ihm drei Kinder schenken. Allerdings ließ er sich 1891 nach 22 Jahren scheiden, nachdem er eine Affäre seiner Gattin mit dem Hauslehrer seines Nachwuchses entdeckt hatte. Er sorgte dafür, dass der Liebhaber seiner Frau ins Gefängnis kam – was vielleicht Glück für ihn war, denn Clemenceau hatte auch einen ausgewiesenen Hang zu Duellen.
Was ihn im Politikbetrieb der damaligen Zeit einmalig machte, war seine Zweisprachigkeit. Überliefert ist auch sein Faible für die asiatische Kunst. Er selbst bezeichnete sich als Buddhist.
Der Mann war ein hervorragender Redner, der pointiert und sarkastisch formulierte. Er war ein leidenschaftlicher Anhänger des Säkularismus und verabscheute den Kolonialismus. Als Ferry die kolonialen Ambitionen damit begründete, dass die Franzosen als höhere Rasse ein Recht hätten, sich die niedrigeren Rassen untertan zu machen, entgegnete Clemenceau, dass er dieser Ansicht skeptisch gegenüberstehen würde, seitdem deutsche Wissenschaftler nachgewiesen hätten, dass die Deutschen der Franzosen-Rasse überlegen seien. Unnötig zu erwähnen, dass Ferry und Clemenceau keine Freunde mehr wurden.
In der Dreyfus-Affäre gehörte er zu den Verteidigern von Dreyfus, stellte sich auf die Seite der Arbeiter und setzte einen Acht-Stunden-Tag durch und Wilhelm II. war der Meinung, dass es Clemenceau war, der dafür sorgte, das Deutschland den 1. Weltkrieg verlor. Andererseits war er sich nicht zu schade, sich die Boulanger-Bewegung zu bedienen und Streiks gewaltsam zu beenden.
Clemenceau war ein Verfechter des vollständigen Sieges über die Deutschen. Der »Der Tiger« wurde er schon früh in seiner Laufbahn genannt – damit anerkannte man seine Redner-Fähigkeiten. Durch den Sieg über die Deutschen wurde er zum »Vater des Sieges«. Obwohl er enorm populär war, lehnte er eine Bewerbung als Präsident der Republik ab und zog sich aus der Politik zurück. Am 24. November 1929 starb er im Alter von 88 Jahren in Paris.
Es gibt einen Titel, deiner sich selbst verlieh: »Erster Polizist Frankreichs«.
Die Antwort auf das Bandidatentum
Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Verbrecher leicht im Vorteil. Die Methoden der Polizei waren festgefahren und den Ermittlern fiel es schwer, den zahlreichen Delikten Herr zu werden. Es brauchte eine neue Polizei-Organisation und es war Georges Clemenceau, der dieses Thema als Innenminister angeht. Am 30. Dezember wird ein Dekret erlassen, in dem die Gründung von zwölf mobilen Polizeibrigaden beschlossen wird.
Die Anzahl dieser Brigaden war nicht konstant: Sie pendelte über die Jahre zwischen 12 und 19 Brigaden. 1941 wird eine nationale Polizei eingeführt, die dem Innenministerium untersteht. Die mobilen Brigaden werden zur regionalen Kriminalpolizei. Kurz wird noch einmal zur alten Organisationsform zurückgegriffen, denn nach der Befreiung werden die mobilen Brigaden wieder hergestellt. Ab 1947 wird wieder alles über den Haufen geworfen und man kehrte zur Struktur der regionalen Kriminalpolizei zurück.
Ich möchte kurz zurückkehren zu der Zeit um 1907. Man stellte fünfhundert mobile Polizisten ein. Einstellungsbedingung war, dass die neuen Kräfte kleiner als 1,70 Meter waren. Nur so, war man der Meinung, würden sie sich für Beschattungen eignen. Die Männer waren oder wurden in den verschiedensten Kampftechniken ausgebildet.
Die technischen Methoden, der sich die Polizei bis dato bediente, waren angestaubt. Mit der neuen Brigade änderte sich das – genauso wie auch die kriminaltechnischen Daten moderner organisiert wurden. Die Polizei nutzte nun Telegrafen, Telefone und sogar Autos hatte sie im Repertoire.
Bonnot
Wir sind immer noch am Anfang des 20. Jahrhunderts, und wenn man von antiautoritären Bestrebungen sprach, verwendete man den Begriff »Anarchismus«. Es war – gerade unter den Ärmeren – eine populäre Bewegung. Jules Bonnot war so einer, der gern die Ungerechtigkeiten anprangerte, Streiks organisierte und sich bei seinen Chefs nicht beliebt machte. Andererseits war er ein guter Mechaniker. Er kannte sich mit Autos aus und später auch mit Tresoren. Was soll ein Mann mit solchen Fähigkeiten machen?
Erst einmal nichts, aber nachdem seine Frau ihn (samt Kind) verlassen hatte und er seinen Arbeitsplatz verlor, engagierte er sich anderweitig. In den Jahren 1906 und 1907 verübte er mehre Einbrüche und nachdem er so zu ein wenig Geld gekommen war, konnte er sich selbstständig machen. Die Autos, die man ihm zu Reparieren gab, nutzte er nachts, um seine Raubzüge abzuwickeln. Damit war er eindeutig ein Innovator – und die Polizei, auf Fahrrädern und Pferden unterwegs, war hintendran.
Bonnots Fluchtauto
Credits: Public Domain
Am 21. Dezember 1911 überfallen Bonnot und seine Komplizen eine Bank in der Rue Ordener. Im Vorfeld hatte sich Bonnot Gedanken darüber gemacht, welches Fahrzeug er für einen solchen Überfall benutzen solle. Er entscheidet sich für eine Delaunay-Belleville-Limousine mit zwölf PS aus dem Jahr 1910. Das Fahrzeug, das gerade mal ein Jahr alt ist, also quasi ein Neuwagen, stiehlt die Bande eine Woche zuvor. In die Geschichte geht dieser Raubüberfall ein, da das erste Mal ein Automobil für ein solches Verbrechen verwendet wurde. Enttäuschend war indes die Beute – das »Ding« hatte sich indes nicht gelohnt, weshalb die Bande die Bezeichnung »Tragische Banditen« verliehen bekommt.
Im Folgejahr geht es mit den Raubzügen weiter, wobei sie auf dem motorisierten Weg bleiben. Diese Aktionen fordern Menschenleben und nachdem auch Polizisten ums Leben kamen, ist die Öffentlichkeit aufgebracht und verlangt ein baldiges Ende des Treibens. Für Jules Bonnot kam das Ende am 28. April. Vier Tage zuvor wurde er bei einer Hausdurchsuchung in der Nähe von Paris entdeckt, wobei er den Polizisten, der ihn aufstöberte, erschoss.
Bonnot wurde jedoch auch verletzt und sucht bei einem Apotheker Hilfe. Der glaubt seinen Beteuerungen nicht und informiert die Polizei. Darauf wird das Gebiet aufwendig durchsucht. Die Polizei fand ihn in einem Haus, welches das »Rote Nest« (»Nid Rouge«) genannt wurde – daraufhin wurde er belagert und man beschoss sich gegenseitig. Schließlich entschlossen sich die Belagerer, das Haus in die Luft zu sprengen. Diese Aktion ging – erwartungsgemäß – nicht ganz schadlos an ihm vorüber. Die Polizisten – angeführt von Xavier Guichard – stürmten das Haus und verletzten den Banditen schwer. Kurz darauf stirbt Jules Bonnot.
Der Rest der Bande, der noch nicht gefasst war, wurde im darauffolgenden Monat entdeckt. So friedlich, wie sich die Polizei das erhofft hatte, ging die Festnahme nicht über die Bühne – vielmehr kann man von einer Festnahme nicht mehr sprechen, die beiden Gangster kamen dabei ums Leben. Die Menge der Beobachter war so aufgebracht, dass die Polizei die Leichen gegen den Pöbel verteidigen musste. Gern wird sich heute über Gaffer aufgeregt, aber wenn man einen Blick auf die Verhältnisse zur damaligen Zeit anschaut, kann man sich nur verwundert die Augen reiben: Haben die Leute nicht realisiert, dass die Polizei gegen kaltblütige Mörder anging, die bewaffnet waren?
Die von Bonnot eingeführte technische Innovation sorgte auf Polizei-Seite dafür, dass aufgerüstet wurde. Jede Brigade bekam ein Auto, um Verbrecher im Falle eines Falles nicht ziehen lassen zu müssen.
Die Sache mit dem Tiger
Heute heißen die Truppen übrigens »Tiger-Brigaden« – das ist jedoch kein historischer Titel, sondern geht zurück auf eine Fernsehserie des französischen Fernsehens aus den Jahren 1974 bis 1983. Damit wird auf den Gründer Georges Clemenceau angespielt, der — wie schon erwähnt Tiger — genannt wurde.
Das derzeitige Logo der Zentraldirektion der französischen Kriminalpolizei nimmt Bezug darauf: Man erkennt sehr deutlich den Tiger und wenn man genauer hinschaut, auch die Silhouette von Clemenceau.
Fiktives und Fakten
Eine Sache machte mich stutzig: Warum sollte man so eine Einheit in einer Gemeinde wie Draguignan stationieren. Ich konnte darin kein Vorteil erkennen. Aber solche Entscheidungen werden oft von der Politik getroffen und vielleicht hatte der Vetter eines Schwagers vom Bäcker der Friseurin eines höheren Beamten im Innenministerium mal den Finger gehoben und gefragt: »Sagt mal, könnten wir nicht auch was abgekommen?« Und so kam es dann.
War aber nicht so. In der Gegend wurde eine mobile Brigade in Marseille stationiert. 1938 kam noch eine Einheit in Digne-les-Bains hinzu. Die letztere Einheit hat (vermutlich) nicht so lange Bestand gehabt – schließlich gab es 1941 eine Reform, die die gesamte Struktur auf den Kopf stellte.
Heißt, wenn Inspektor Lechat bei der mobilen Brigade war, dann nicht in Draguignan sondern höchstens in Digne. Und wenn das der Fall wäre, würde die »Mein Freund Maigret«-Affäre auf die Zeit zwischen 1938 und 1941 oder zwischen 1944 und 1947 limitieren.
Ob Simenon das im Blick gehabt hat? Kann ich mir nicht vorstellen. Im besten Fall hat er wahrgenommen, dass mal eine provinzielle mobile Brigade in der Ecke existierte – aber er kümmerte sich nicht darum, ob diese noch existierte und auch der genaue Ort war für ihn nicht relevant.
Immerhin verkürzte Simenon dem armen Inspektor mit dem Ortswechsel der Brigade die Anfahrtszeit zum Tatort erheblich. Alles hat sein Gutes.
In dem Text ist jedoch ein alter Bekannter aufgetaucht, der im Leben von Maigret eine Rolle gespielt haben soll: Xavier Guichard. Schließlich war er ein erklärter Mentor von unserem Kommissar. Wunderbar, wie sich wieder einmal das Ausgedachte mit den Tatsachen vermischt.