Die Wahl

Die Wahl (II)


In seiner Simenon-Biografie schrieb Fenton Bresler in Bezug auf »Maigret contra Picpus«, dass die Besetzung durch die Deutschen nie ein Thema gewesen sei. Daran gibt es keinen Zweifel, das gilt aber für jeden der Maigrets – nirgendwo gab es einen Chef-Wechsel aufgrund der Besatzung oder eine Situation, in der sich die Gestapo in die Geschäfte Maigrets eingemischt hätte.

Plausibel wäre das aber durchaus gewesen. Die wahre Geschichte um Marcel Petiot, hier auch schon thematisiert, zeigte doch, dass diese Eingriffe nicht ungewöhnlich waren. Über alle Stories betrachtet, lässt sich feststellen, dass der Zweite Weltkrieg, die Besatzung, die Judenverfolgung und die Befreiung in der Maigret-Welt nicht stattfanden.

Warum war in dem Picpus-Fall alles so wie vor dem Krieg? Eine Erklärung wäre, dass Simenon es nicht wahrhaben wollte. Das wäre jedoch eine sehr wohlwollende Interpretation. Viel eher war es wahrscheinlich so, dass da eine Schere im Kopf agierte – denn er wollte den Roman veröffentlichen, und das passierte zu dem Zeitpunkt schon unter deutscher Kontrolle oder unter Berücksichtigung von Kriterien, die die deutschen Besatzer vorgegeben haben. Und natürlich hätte eine Zeitung wie der »Paris-Soir« keinen Roman gedruckt, der sich kritisch mit den Gegebenheiten auseinandergesetzt hätte.

So bleibt die Frage, warum sich Simenon auf diesen Deal eingelassen hat? Die Geschichte wurde in einer Zeitung veröffentlicht, die unter deutscher Kontrolle stand. Die Filmrechte verkaufte er Continental-Film – einer von den Deutschen gegründeten Firma, die genehme Filme für den französischen Markt produzieren sollte. 1942 kam der Fall mit Albert Préjean als Maigret in die Kinos. 

Schauen wir uns die ersten Kandidaten an, die vorgeschlagen wurden und damit auch die Schauspieler. Wir marschieren die Reihe entlang, so wie es bei uns gang und gäbe ist – von links nach rechts.

Aimos (Isidore)

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein französischer Schauspieler und möchten in der schillernden Welt des Theaters oder Films richtig auffallen. Was wären Ihre Optionen wenn Sie Beispiel Jean Dupont oder Marie Martin heißen? Ein knackiger Künstlername wäre wohl eine Option! Ein kurzer, prägnanter Name bleibt einfach viel besser im Gedächtnis haften. »Jean Dupont« mag zwar gut klingen, aber »Aimos« – das zündet doch sofort! Ihr Publikum wird Sie garantiert nicht so schnell vergessen und bei Ihren Auftritten jubelnd Ihren Namen rufen. Und wer weiß, vielleicht denken Sie sich sogar, dass ein einziger, geheimnisvoller Name Sie in ein schillerndes Rätsel hüllen könnte. Wer ist »Aimos« wirklich? Ein ehemaliger Geheimagent? Ein genialer Erfinder? Die Fantasie Ihrer Fans würde bestimmt auf Hochtouren laufen. Dieser neue Name wird zu Ihrer persönlichen Marke! »Aimos« ist nicht nur ein Schauspieler, sondern eine wahre Legende. Stellen Sie sich vor: T-Shirts, Fanartikel – Sie werden zur echten Ikone. Klingt das nicht verlockend?

Nun ja, zugegeben, es gibt ein kleines Problem. Dieses Phänomen mit den Künstlernamen aus einem Wort hat sich in der Schauspielerei überlebt. Wenn Sie es nur wegen des Namens machen, müssten Sie sich vielleicht auf die Singerei verlegen. Außerdem ist der Name schon vergeben und Sie würden als fantasieloser Kretin dastehen. Nicht der optimale Start.

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Warum nun Raymond Arthur Caudrilliers sich entschlossen hatte, diesen Namen anzunehmen, dieses Geheimnis kann hier nicht gelüftet werden. Der Schauspieler, der von »Paris-Soir« für die Figur des Isidore vorgesehen war, wurde am 28. März 1891 geboren und soll seine erste Rolle schon mit zwölf in einem Film gespielt haben. Aimos stand in dem Ruf, bescheiden zu seinen. Wohlhabend war der Mann, schließlich war er prächtig im Geschäft, sein Reichtum zeigte er aber niemals. Filmliebhaber, so ist es zu lesen, sollen in seine Filme gegangen sein – auch wenn er nur eine Nebenrolle spielte.

Der Name könnte (theoretisch) auch deutschen Simenon-Film-Liebhabern bekannt sein. Schließlich spielte er an der Seite von Raimu den Landstreicher Cupidon in »Monsieur La Souris« … theoretisch halt deshalb, da der Film in den letzten Jahren hierzulande nicht mehr zu sehen war.

Während des Zweiten Weltkriegs engagierte er sich bei Wohltätigkeitsaktionen, bei denen Essen an Arme und Kriegsgefangene verteilt wurde. Am 20. August wurde er im Verlauf der Befreiung Paris von Deutschen erschossen. Seine Beisetzung erfolgte unter großer Anteilnahme der Bevölkerung drei Wochen später.

Die Rolle in dem Picpus-Fall, die ihm zugeschrieben wurde, tauchte auch als Nebenrolle in der Geschichte auf.

Mary Malbos (Mademoiselle Jeanne)

Manchmal wurde die Schauspielerin auch »Malbot« geschrieben. Bekannt ist, das sie am Theater spielte – Operettenrollen werden ihr zugeschrieben. Beispielsweise wird sie in der Originalbesetzung des Stückes »Là-haut« genannt. Sie sang zusammen mit Maurice Chevalier, bei YouTube können Interessierte ein Stück nachhören, welches wohl in der oben genannten Operette gespielt wurde.

Die Redaktion hatte ihr die Opferrolle zugeschrieben. Es wäre also nur ein kurzer, aber dramatischer Auftritt gewesen und ein Liedchen hätte sie nicht zum besten gegeben.

Sinoël (Le vieux Jef)

Wäre es eine vorgeschlagene Filmbesetzung – Sinoël hätte es nicht geschafft. Die Rolle eines Jef gab es in dem Buch letztlich nicht. Also bleibt nur die Frage, wer sich hinter dem Schauspieler verbarg.

Der Ein-Namen-Pantomime wuchs als Jean Léonis Biès auf. Geboren wurde er in Sainte-Terre im Südwesten Frankreichs am 13. August 1868. Er begann als Sänger in Cafés und wurde um 1890 als solcher bekannt. Später arbeitet er für die Pariser Revuen und macht sich einen Namen als Komödiant. Erst 1931 wechselt er von der Bühne auf die Leinwand. Seine Rolle in den Produktionen der 1930er- und 1940er-Jahre wurde von Raymond Chirat und Olivier Barrot in «Les Excentriques du cinéma français« wie folgt beschrieben:

Er tauchte auf, bestürzt und verwirrt darüber, Aufmerksamkeit zu erregen, und fesselte sie so sehr, dass man plötzlich nur noch ihn sah.

Seinen letzten Film sollten die Zuschauer im Jahr 1950 sehen. Die Premiere hatte Sinoël selbst nicht mehr erlebt. Er starb am 30. August 1949.

Paulette Dubost (Emma)

Mochte die Redaktion sie als Gesicht für den Maigret-Film auch vorgeschlagen haben – in der Pipus-Verfilmung gab es für sie keine Rolle. Das galt, ich hatte vergessen, es zu erwähnen, auch für die anderen drei Kollegen, die schon beschrieben worden sind. Paulette Dubost sollte aber eine Maigret-Institution werden.

In insgesamt fünf verschiedenen Rollen tauchte sie in Maigret-Produktionen auf, als da wären

  • »Maigret stellt eine Falle«,
  • »Maigret sieht rot«,
  • »Monsieur Charles«,
  • »Maigret am Pigalle« und
  • »Maigret und die alte Lady«.

Die ersten beiden Rollen absolvierte sie an der Seite von Jean Gabin, später trat sie in der Jean-Richard-Serie auf. Hauptrollen waren es nicht, aber das wäre die Emma in dem Picpus-Fall auch nicht gewesen.

Geboren wurde die Schauspielerin am 8. Oktober 1910 in Paris, gestorben – und da halte man sich fest, zumal ich es ja gerade mit der französischen Lebenserwartung gehabt habe – ist sie am 21. September 2011. Sie hat ganz knapp den 101. Geburtstag verpasst! Der Vater war »nur« Ingenieur, aber die Mutter war Operettensängerin – die Kunst kam also von dieser Seite. Die erste Rolle hatte sie im Alter von sieben Jahren – als kleine Ratte (ein so wunderbarer wie auch zweifelhafter Begriff für Schülerinnen an Tanzschulen, die in der Pariser Oper auftreten). Wer das Œuvre Simenons kennt, weiß, dass er sich auch mit dem Betrüger Alexandre Stavisky beschäftigte – insofern ist die Information, dass sich selbiger in Paulette Dubost verliebte, bemerkenswert – so erzählte es die Schauspielerin in einem Interview 1992. Da war sie 14 Jahre alt, es kann getrost davon ausgegangen werden, dass aus dieser Liaison nichts wurde. Mit siebzehn ging es für sie zur Operette, ein Jahr zuvor hatte sie schon eine Statistenrolle in einem Jean-Renoir-Film gehabt. Im Alter von zwanzig Jahren startete sie durch und hatte ihre ersten nennenswerten Auftritte in Filmen.

Jean Dumontier (Bulard le Chauve)

Dumontier sollte einen Kahlen spielen in der Picpus-Geschichte. Nun, eine solche Rolle und einen solchen Namen gab es nicht. 

Die Quellenlage über sein Leben und seine Karriere ist auch sehr dürftig. Bekannt ist, dass er am 4. April 1899 in Paris zur Welt kam und dort am 21. März 1966 starb. In der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre war er im französischen Kino präsent gewesen. Erfolgreicher ist da schon seine Frau Made Siamé, die auch einen Auftritt in einem Simenon-Film hat – »Monsieur La Souris« wird hier ein zweites Mal genannt.

Constant Rémy (Maigret)

Ich habe nur ein Bild von dem Schauspieler gesehen und fragte mich gleich: Warum nimmt man die Statur aus der Vorlage nicht ernst. Constant Rémy mochte ein sehr netter und freundlicher Herr gewesen sein, aber seine Gesichtszüge deuten darauf hin, dass er schlanker Natur gewesen ist.

Der Schauspieler wurde am 20. Mai 1882 in Paris geboren und starb am 16. August 1957 in Cannes. Von 1909 an, so kann man es sagen, war er dick im Geschäft. Einen Film nach dem anderen dreht er, aber Ende der 1930er-Jahre ist damit Schluss. Nur noch vereinzelt wird Rémy gebucht.

Eine Nennung in einer Simenon-Verfilmung ist in seiner Vita nicht zu finden. So bleibt dieses Gesicht als Vorschlag eines Maigrets, der aber auch nicht werden sollte – die Rolle sollte ein anderer bekommen.