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Die Wahl (III)
In den vorangegangenen Beiträgen dieser Reihe haben wir schon die historischen Zusammenhänge betrachtet und auch das fragwürdige Verhalten Simenons zu den Besatzern. Zur Erinnerung: Die Zeitung »Paris-soir« hatte die Idee, ihre Leser die Figuren des nächsten Maigrets »Maigret contra Picpus« wählen zu lassen. Dieser Beitrag schaut auf die Vorschläge des zweiten Tages.
Weitere fünf Figuren standen zur Wahl. Es gab auch diesmal wenig Erklärungen, wen die Protagonisten eigentlich darstellen sollten. Wir stellen vor:
Jeanne Fusier-Gir (Madame Baffoin)
Jeanne Fusier war die Tochter von Dramatiker Léon Fusier und Isabelle Adolphine Mulot. Schon in jungen Jahren fand sie ihren Weg zur Bühne und zählte zu den Schülerinnen von Firmin Gémier und war eine von Sacha Guitrys Favoritinnen – und das alles, bevor sie 17 wurde!
In »Le diable boiteux« spielte sie die Rolle der Marie-Thérèse Champignon, die Jugendliebe von Talleyrand, während sie in »La Poison« als Floristin glänzte. Auf der Theaterbühne war sie in vielen bekannten Stücken und Operetten zu sehen.
Die Kino-Karriere begann für sie mit Stummfilmen, obwohl diese wirklich nur einen kleinen Teil ausmachten. Ihre eigentlich Karriere startete mit dem Tonfilm – hier glänzte sie immer wieder in Nebenrollen. Das Publikum schätzte ihr lebendiges Spiel und ihre markante Stimme.
Am 12. Oktober 1911 heiratete sie den Maler und Karikaturisten Charles Gir, geboren als Charles Félix Girard. Die beiden hatten zwei Kinder: François Gir, der später Fernsehregisseur wurde, und Françoise Lamy, geborene Girard.
Vorgesehen war sie für die Rolle der Madame Baffoin – die Concierge im Haus Rue Caulaincourt 67a. Im Unterschied zum Roman, in dem die Figur einen »echten Namen« besitzen durfte, war sie im Film »nur noch« eine Concierge. Gespielt wurde sie auch nicht von Jeanne Fusier-Gir, sondern von Jeanne Véniat.
Pierre Labry (Jules)
Der Pierre! Was kann man über ihn erzählen? Fast nichts. Unzählige Nennungen in Zeitungen zeigen, dass er ein viel beschäftigter Schauspieler gewesen war. Es wird erwähnt, dass er eine Zeit lang in Kanada und den USA mit einer Truppe tourte, aber da er ab 1919 einen Film nach dem anderen drehte – alle mit französischen Titeln –, darf davon ausgegangen werden, dass er wieder zurückkehrte. Der Sprung vom Stumm- zum Tonfilm war für ihn offenbar kein Problem.
Seine Beschreibung lautet in Kurzform: Geboren – tourte in Kanada – drehte Filme – starb.
Das ist schon ein wenig traurig für ein solch produktiven Menschen wie Labry.
Labry wird in dem Film nicht notiert. Jules wurde von Simenon in dem Roman als Besitzer eines Milchgeschäftes untergebracht, in den Credits wird weder ein Jules noch ein Besitzer eines Milchgeschäftes erwähnt.
Yvonne Ducos (Babette)
Diese Dame ist eine wahre Herausforderung, meinte ich zumindest anfangs. War sie zu ihrer Zeit bekannt? Ja, das kann man ohne Zweifel festhalten. Hat sie nennenswerte Spuren hinterlassen, die sich heute leicht und unkompliziert aufspüren lassen? Nein. Aber hat sie überhaupt Spuren hinterlassen? Massenweise.
Was sich leicht ermitteln lässt, ist ihr Geburtsdatum. Das war der 1. Juli 1887. Bei den anderen Schauspielern habe ich das nicht einmal erwähnt. Warum hier? Nun ja, so viel habe ich nicht. Da nimmt man, was man bekommt. Aber schauen wir einfach ein wenig weiter, wenn das Internet wenig über eine Person weißt, ist es ja eine Herausforderung. Sie wurde in Marseille geboren.
Eine erste mögliche Spur von ihr findet sich in einem Bericht aus dem »Figaro« vom 18. Mai 1905. Yvonne Ducos stand da vor ihrem 18. Geburtstag und müsste schon mit der Schauspielerei geliebäugelt haben. Nehmen wir an der Stelle an, dass es nicht so viele Yvonne Ducos’es gegeben hat, die diesen Weg eingeschlagen haben:
Heute, Donnerstag um 16 Uhr, im Rathaus des sechsten Arrondissements, öffentlicher Gratis-Kurs in Sprechtechnik von Herrn Edouard Céalis vom Sarah-Bernhardt-Theater. Unterricht und Bildung der Frau in der Dritten Republik: Vortrag von Fräulein Marguerite Berthet. Rezitationen von Fräulein E. Sainean, Y. Papi, G. Harrouel, Alice Berthet, Alice Booth, Yvonne Ducos, Duret, Hamont und Harrouel, sowie von Herrn André, Clément und Herrn Edouard Cealis.
Zwei Jahre später gab es die nächste Erwähnung in einer Zeitung, die sich noch auffinden lässt. Offenbar studierte sie in der Zeit auf einem Konservatorium – diesmal gab es die Meldung im »Le Rappel« vom 18. März 1907. Im Mai des gleichen Jahres erschien eine Reihe von Meldungen zu einer Veranstaltung mit Yvonne Ducos. Im »Le Mémorial de Gaillac« vom 6. Juni wird erwähnt, dass die junge Frau erstmals eine Rolle in einem Theaterstück spielte – auch wenn es wohl eher ein Nebennebenrolle war. (Und ja, das ist jetzt kein Vertipper, das ist so gemeint, wie es geschrieben steht.) Dabei handelte es sich um »König Ödipus« von Sophokles.
Am 11. August des gleichen Jahres hatte sie ihre erste Erwähnung in der »Comœdia«. Über die Zeitung, die an anderer Stelle hier schon genannt wurde, sollten vielleicht auch zwei, drei Sätze verloren werden: Henri Desgrange, der Erfinder hinter der Tour de France und Gründer der Zeitung »L'Auto-Vélo« im Jahr 1900 – genial »Auto« und »Fahrrad« in einem Blatt, sensationell, aber nicht von Dauer; das Fahrrad musste weichen -, war es, der 1907 den Start der Zeitung »Comœdia« finanzierte. die »Comœdia« bot für nur 5 Cent vier illustrierte Seiten und etablierte sich von 1907 bis 1914. Nach einer Pause entwickelte sie zwischen 1919 bis 1937 zur bedeutendsten französischen Tageszeitung mit einem rein kulturellen Fokus. Über einen langen Zeitraum hinweg war sie die einzige Publikation, die täglich die Welt der Künste und der Literatur in den Vordergrund rückte. Besonders im Rampenlicht standen dabei Theater, Live-Shows, Kino, Musik, Tanz und die bildenden Künste.
Wie dem auch sei: Auf der Titelseite dieser Kultur-Zeitung erwähnt zu werden, das ist schon was. Es geht um ein Stück namens »Les Princes d’Orange« und der Redakteur bekommt sich überhaupt nicht mehr ein, schreibt er doch:
Dann, Anmut und Wut, ein Wirbel aus buntschillernden Schleiern, hier kommen die Prinzessinnen: Weber, Roch, Provost, Neith Neith Blanc, Tessandier, Yvonne Ducos, Delphine Renot, Lyrisse und diese Tanagra Napierkowska! Und noch viele andere! Tränen, Lachen und Tänze! Sie eroberten das sagenhafte Goldene Vlies, das Reichtum und Ruhm in seinen Falten verbirgt [...]
Die Sprache in dem Artikel ist sehr blumig, um es einmal vorsichtig auszudrücken:
Man schläft schlecht in der fiebrigen Atmosphäre einer Stadt, die von der Erwartung unvergesslicher Kunstdarbietungen erfüllt ist. Und unter so vielen freiwilligen Märtyrern, erschöpft von stiller Hingabe, sehe ich dich in deiner klangvollen Ecke, oh Souffleur, und ich bemitleide und bewundere dich zugleich, denn du bist abwechselnd der Stellvertreter der abwesenden Sänger. Möge dein Name durch Comœdia bis in die Nachwelt weitergetragen werden! Es ist Delafosse!
Der Autor zeichnete mit Roger Ducos. Aber »Ducos« ist nun auch kein seltener Name in Frankreich, so wird es nur ein Zufall gewesen sein.
In Meldungen und Berichten aus diesen Jahren wird sie immer noch als die Mademoiselle vom Konservatorium.
Schriftsteller hinterlassen ihre Werke. Die Schöpfungen lassen sich Jahrzehnte, teilweise Jahrhunderte nach dem Hinscheiden ihrer Erzeuger:innen noch lesen. Selbst dann, wenn diese in Vergessenheit geraten sind, besteht die Chance der Wiederentdeckung. Wie beispielsweise das Werk von Catulle Mendès, einem 1841 in Bordeaux geborenen Dramatiker. Keine Frage, der Mann war zu Lebzeiten sehr fleißig, und das nicht nur in schriftstellerischer Hinsicht aus drei Ehen und einer Beziehung entsprangen zehn Kinder. Catulle Mendès' umfangreiches Werk ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Er verkörperte die Ästhetik des Fin de Siècle und benutzte einen anspruchsvollen Wortschatz. Heute wird man sagen, er hat sich der Populärkultur verschrieben – auch wenn es uns heute nicht mehr so vorkommt. Zeitgenössische Kritiker bemängelten indes seine oberflächliche Herangehensweise und seine Marotte, der neuesten Mode zu folgen. Dennoch erfreute sich seine dekadente Poesie durchaus in einigen Kreisen großer Wertschätzung. Eines seiner Werke – »Médée« von 1898 – wurde im Théâtre romain d'Orange (vermutlich das heutige Théâtre antique d'Orange) aufgeführt. Mit auf der Bühne stand Yvonne Ducos, die in der Presse – in diesem Fall im »Mercure de France« gelobt wurde:
[...] und im ersten Werk genoss man die präzise Diktion von Mademoiselle Yvonne Ducos, [...]
Die Nennungen häuften sich mit den Namen, oft wurde sie mit dem Attribut »charmant« versehen oder ihr Auftritt wurde als »exquisit« gelobt. Oft wurde ihr Name in der Theater-Termin-Spalte erwähnt und muss in die Kategorie »Glück gehabt, dass dein Name es mit den Artikel geschafft hat« eingeordnet werden, da sie am Ende des Absatzes standen. Ab 1909 war zu beobachten, wie sich ihr Name nach vorne schob oder hinter ihrem Namen ein »etc.« auftauchte. Es ist also durchaus möglich, dass sie schon früher in Stücken mitspielte, aber bei den Ankündigungen unter »etc.« fiel.
Im Jahr 1910 wurde im »Figaro« angezeigt, dass sie im Pariser Théâtre Shakespeare die Hauptrolle spielte. Eine wichtige Rolle im Leben der jungen Schauspielerin dürfte Paul Mounet gespielt haben. Als sie ihn kennenlernte war der Mann sehr lange im Schauspielgeschäft und sehr erfolgreich. Er war Mitglied der Comédie-Française und hatte schon die ersten Schritte im Film-Geschäft unternommen. Mounet war zu dem Zeitpunkt schon um die sechzig Jahre alt und ihr Lehrer am Konservatorium. Davon kann man zumindest ausgehen, wenn man die Meldungen im Hinterkopf hat, dass sie mit dem Schauspieler gemeinsam bei Theater-Abenden aufgetreten war und sich dann diese zu Gemüte führt:
Mademoiselle Yvonne Ducos ist die Gewinnerin des Tages. Als Schülerin von Paul Mounet, die erste Belobigung im Jahr 1909, verkörperte Mademoiselle Ducos abwechselnd eine schmerzerfüllte, klagende und fluchende Camille.
Um einen Preis ging es auch in einem Artikel im »La Petite République« vom 7. Juli 1910, in dem es hieß:
Schließlich wird Mademoiselle Yvonne Ducos, die nach ihrem ersten Preis in Tragödie für einen ersten Preis in Komödie prädestiniert schien, im nächsten Jahr sicherlich all ihre Ansprüche auf den doppelten Triumph zurückerlangen, den nur ein leichter und zufälliger Ausfall verzögert hat.
Woraus sich schließen lässt, dass Yvonne Ducos auch 1910 noch in der Ausbildung am Konservatorium war. Ein wenig ausführlicher beschäftigte man sich am nächsten Tag im »Le Voltaire« mit dem Spektakel:
Schauspielerin Yvonne Ducos
Credits: Public Domain
Kehren wir zum Wettbewerb von gestern zurück. Gleiche Jury wie für die Tragödie und dieselbe Unstimmigkeit bei der Verteilung der Auszeichnungen, mit der Verschärfung, dass es keinen soliden Hintergrund mehr für diese äußere Verwirrung gab, da die »Kombination«, die berühmte Kombination, aus mysteriösen Gründen am zweiten Tag geplatzt war oder ich zumindest nicht die Zeit hatte, sie zu vertiefen. Die Jury des Wettbewerbs gingen von einem Extrem zum anderen mit der erstaunlichsten Leichtfertigkeit. Am Dienstag verliehen sie Fräulein Yvonne Ducos einen ersten Preis für Tragödie, der absolut unverdient war und die gesamte Belohnungsskala durcheinanderbrachte. Gestern verweigerten sie dieser jungen Schülerin, die weder eine Camille noch eine Bérénice ist, aber ein sehr schönes, sehr sicheres dramatisches Schauspieltalent besitzt, den Preis für Komödie. Sie hielten ihr die schlechte körperliche Verfassung, die extreme Erschöpfung, die der zu große Aufwand des Vortages hinterlassen hatte, vor. Vergeblich hatte sie eine echte Sensibilität gezeigt und großartige pathetische Akzente in der ultramelodramatischen Szene von Denise (»Die Geschichte des toten Kindes«) gesetzt. Sie wurde ausgeschlossen, eliminiert, fallengelassen, außer Acht gelassen. Wie der arme Coquelin Cadet sagte, als Moral einer dieser Express-Fabeln, »den schwarzen Bären folgen die weißen; die Tage folgen aufeinander und gleichen sich nicht«.
Yvonne Ducos (1910)
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Das Jahr ging sehr versöhnlich aus, auch wenn einige Kultur-Redakteure der Meinung gewesen sind, dass der Doppelsieg verdient gewesen wäre oder sie eher den Komödien-Ehrenpreis hätte erlangen sollen. Am 20. Dezember 1910 vermeldete der »Excelsior« wie folgt:
Der Grand Prix Osiris für das Jahr 1910 wurde gestern an Mademoiselle Yvonne Ducos verliehen, den ersten Preis in der Tragödie bei den diesjährigen Wettbewerben des Konservatoriums.
Es ist bekannt, dass dieser Preis von 5.000 Francs jährlich an einen ersten Preisträger (Mann oder Frau) in Tragödie, Komödie, Oper oder Operettendarbietung vergeben wird. Die Teilnehmer müssen in der Szene antreten, die ihnen bei den Abschlusswettbewerben ihren Preis einbrachte.
Gestern hat Mademoiselle Yvonne Ducos in einer Szene aus "Horace" (Camille) triumphiert.
Obwohl noch sehr leidend, war die junge und charmante Schauspielerin bewundernswert.
Diese Feierlichkeit war außerdem perfekt. Es ist die letzte, die im Konservatorium im Faubourg Poissonnière stattgefunden hat, und viele Schüler hatten darauf bestanden, daran teilzunehmen.
Die Jury hat alle Teilnehmer mit Sympathie und Interesse angehört, und es war leicht festzustellen, dass die Preisträger vom vergangenen Juli nichts von den Lektionen verloren hatten, die sie im Faubourg Poissonnière erhalten hatten.
Am Ende der Sitzung wartete man fieberhaft im Hof auf das Ergebnis.
Glücklicherweise war die Beratung kurz, und der Name von Mademoiselle Yvonne Ducos wurde einstimmig bejubelt. Wir sollten erwähnen, dass der Grand Prix Osiris, der 1907 gegründet wurde, bisher nur weibliche Preisträger hat.
1911 spielte sie im Théâtre des Chefs-d'Œuvre in Paris und der »Excelsior«, mal wieder, vermeldete, dass man »die schönen Haltungen und die Sensibilität von Mademoiselle Yvonne Ducos« loben müsse. Ihr Name tauchte nun sehr häufig auf, aber das ist natürlich ein Zerrbild. Denn da jeden Tag in den Zeitungen ein Theaterprogramm erschien, kommt sie natürlich schnell auf Tausende von Nennungen über die vielen Jahre. Um die interessanten Nachrichten herauszupicken, muss also genau geschaut werden.
Sie dürfte sich über diese Mitteilung sehr gefreut haben, die am 10. Juli des gleichen Jahres im »La Libre Parole« erschien:
Nach den Prüfungen des Konservatoriums wird Yvonne Ducos in die Comédie-Française aufgenommen.
Im Zuge dessen wurde ein Interview mit ihr in der »Comœdia« geführt, in dem sie ausführt, dass sie nun erst eine Rolle in Toulouse spielen würde, bevor sie sich nach Paris zurückkehren würde, um sich zu erholen und auf die nächsten großen Rollen vorbereiten würde. In dem Zusammenhang wird von ihr ihr Meister Paul Mounet erwähnt, mit dem sie in Zukunft weiterarbeiten würde. Im Oktober feierte Sie ihr Debüt in der Comédie-Française. So wurde in der zuvor genannten Zeitung (30. Oktober 1911) natürlich auch dieses betrachtet und zu ihrer Leistung in Racines »Iphigénie« meinte man:
Mademoiselle Ducos hat sich sehr mutig beim ihrem Debüt an die bedeutendste und schwierigste Rolle ihres Fachs gewagt, und zwar in einem Fach, das nicht streng genommen das ihre ist, da sie nicht das Aussehen der jungen Prinzessin der Tragödie hat. Die Herausforderung war jedoch sehr zu ihren Gunsten, denn sie hat bestimmte äußere Qualitäten durch einen scharfen Verstand, eine sehr sanfte, tiefgehende Sensibilität und eine entzückend hübsche Stimme ersetzt, die mit perfekter Kunst gesetzt ist, im Dienste einer sehr klaren Diktion, die dem Vers von Racine die Schönheit des Rhythmus bewahrt und zugleich die ganze Aufrichtigkeit, die ganze Reinheit und in Momenten die jugendliche Leidenschaft der Gefühle ausdrückt, die die Tochter Agamemnons bewegen.
Solch eine Kritik hörte sie gewiss gern. Im darauffolgenden Jahr drehte sie mit Mounet ihren ersten Film. In »Les jacobites« war einer ihrer seltenen Auftritte in diesem Medium. Insgesamt sind nur vier Nennungen in dem Zeitraum bis 1946 verzeichnet und danach hat sie sich dem Film komplett versagt. Sie blieb dem Theater treu, insbesondere der Comédie-Française. Pensionärin war sie schon, Mitglied wollte sie auch gern werden, wie ein Beitrag aus dem Dezember 1930 (»Petit Parisien«) belegt.
Die Ernennungen zum Mitgliedschaftsstatus sind noch nicht Gegenstand ernsthafter Gespräche gewesen, und wahrscheinlich wird erst in der letzten Sitzung Ende des Monats eine Entscheidung getroffen. Die Anzahl der Kandidaturen ist bekanntlich groß. Die Damen Jane Faber, Yvonne Ducos, Nizan, Marcelle Romee; die Herren Paul Gerbault, Dorival, Ledoux, Pierre Bertin, Chambreiul und de Rigoult haben offiziell ihren Wunsch geäußert, Mitglieder zu werden, und all diese Anträge sind, das kann man nicht leugnen, gerechtfertigt. Wir haben bereits über Mademoiselle Nizan, die Herren Bertin und Ledoux sowie Herrn Dorival gesprochen, die allen Respekt verdienen und seit langem die Belohnung für ihre Arbeit und ihren Einsatz verdient haben. Zu diesen Namen muss man Mademoiselle Yvonne Ducos hinzufügen, die seit 1911 eine der engagiertesten Pensionäre der Comédie-Française ist. Als erste Preisträgerin des Konservatoriums in Tragödie und Komödie hat sich Mademoiselle Yvonne Ducos konstant in der Interpretation des klassischen und modernen Repertoires eingesetzt und mit sicherem Talent sowie einem tiefen Verständnis der großen Autoren gespielt: Phèdre (Aricie und Ismène), Britannicus (Junie), der Cid (die Infantin); sie war auch Iphigenie, Antigone und trat in zeitgenössischen Werken immer erfolgreich auf. Es ist manchmal nützlich, dem Komitee den Dienst eines oft vergessenen Künstlers in Erinnerung zu rufen. Mademoiselle Ducos ist, zusammen mit Mademoiselle Nizan, eine der verdienstvollsten Pensionäre und auch eine derjenigen, die von den einflussreichen Mitgliedern vernachlässigt werden, aus unbekannten Gründen. In einer Zeit, in der durch den Tod von Madeleine Roch Anteile frei geworden sind, von denen man nicht ausgegangen war, dass sie dem Komitee zur Verfügung stehen würden, ist es eine Frage der Gerechtigkeit, dass dieses denjenigen zufriedenstellt, die das Haus von Molière am besten dienen und seine schönen Traditionen achten.
In der Hinsicht gab es kein Happy End für Yvonne Ducos, sowohl in diesem wie auch in den folgenden Jahren sollte sie nicht zu einem Mitglied werden (Zur Erinnerung: Als ein solches bekam man Gesellschafter-Anteile an der Theatergesellschaft, war an den Gewinnen beteiligt, hatte feste Verträge – die beidseitig galten –, und nach zwanzig Jahren einen Pension. Pensionäre hatten nur Ein-Jahres-Verträge, die verlängert werden konnten. Sie erhielten, anders als der Name im Deutschen suggeriert, von dem Theater keine Pension im Ruhestand.)
Über ihr privates Leben kann man kaum etwas sagen. Diese Aspekte wurden in der damaligen Presse entweder nicht thematisiert, weil man sich in diese Niederungen nicht begeben wollte, oder in den Zeitungsarchiven liegt nicht das richtige Material. Aus der Tatsache, dass sie bis in die 1940er-Jahre als Mademoiselle tituliert wurde, lässt sich schließen, dass sie zumindest bis in diese Jahre nicht geheiratet hat – wenn sie verheiratet gewesen wäre, wäre es ein großer Fauxpas, wenn man sie noch Fräulein genannt hätte.
1937 wurde sie noch als Schauspielerin an der Comédie-Française benannt, in den Jahren danach stand oft ein »Ex« davor. In der Zeit muss es einen Bruch gegeben haben.
In den 1940er-Jahren hatte sie neben Theater-Auftritten auch eine regelmäßige Radio-Sendung, in denen es um den Vortrag von Poesie ging.
In einer letzten Erwähnung im Jahr 1953 geht es um ein Theaterstück, dass in Paris aufgeführt ist. Es hört sich nicht so an, als ob die zu dem Zeitpunkt Sechsundsechzigjährige eine Hauptrolle gespielt hat. Vielleicht auch ganz gut, wenn man die Kritik dazu liest:
Trotz der sympathischen und leidenschaftlichen Überzeugung seiner Darsteller wurde es [das Stück] von der Kritik und dem Publikum nicht sehr positiv aufgenommen. Der Autor, Jean Prieur, hatte zuvor eine Komödie eines völlig anderen Genres geschrieben; bei ihrer jüngsten Premiere im Théâtre Monceau nutzte er sogar die Gelegenheit, seinen Namen zu ändern, denn es ist unter dem Namen Pierre Juan, dass er »Gabrielle and C°« aufführen lässt. [...] und dennoch, wenn Herr Prieur-Juan mich um Rat fragen würde, würde ich ihm anraten, einen dritten Namen zu wählen und ein drittes Genre auszuprobieren. Immerhin könnte es gut möglich sein, dass er sich in der Kriminalkomödie oder der Operette auszeichnet.
Da es nach diesem Beitrag in der »L'Information financière, économique et politique« keine weiteren Artikel und Nennungen gibt, kann davon ausgegangen werden, dass sich Yvonne Ducos zur Ruhe setzte. Sie starb am 9. November 1966 in Aubagne und damit in der Gegend, in der sie geboren wurde.
Sehr viel Text für eine Schauspielerin, die dann trotzdem nicht in dem Maigret-Film mitspielen sollte. Aber irgendwie war es unbefriedigend, keine Informationen über sie zu finden. Schauspieler, die nur Theater spielen, haben nichts für die Ewigkeit hinterlassen. Das mag auch heute (noch oder wieder) so sein, wo diese Aufführungen es sehr selten in einen Kino-Film oder in eine Fernsehübertragung schaffen.
René Bergeron (Louis Couteau)
Der Schauspieler war drei Jahre jünger als Yvonne Ducos, er wurde am 7. Oktober 1890 in Paris geboren. Bei der Betrachtung seiner Filmografie stellt man fest: Der Mann war dreimal in Simenon-Filmen zu sehen – und das in recht kurzer Zeit: »La Maison des sept jeunes filles« (1942), »Monsieur La Souris« (1942) sowie »L'Homme de Londres« (1943) mit.
Die Biografie des Schauspielers in der französischen Wikipedia formuliert für die Zeit nach dem Krieg folgendes:
Er unterbrach die Filmkarriere für zwölf Jahre, um in den 1950er-Jahren zurückzukehren.
Hört sich das nach Freiwilligkeit an? Für mich schon. Das entspricht jedoch nicht den Tatsachen. Wahr ist, dass ihm ein Berufsverbot auferlegt worden war, da er gegenüber den deutschen Besatzern zu »freundlich« gewesen war. Eine mögliche Erklärung dafür war seine Zusammenarbeit mit seinem Freund Robert Le Vigan, der nicht nur Schauspieler war, sondern auch Zuträger der Gestapo. Das Radio nutzte Le Vigan um antisemitische Propaganda zu verbreiten, offenbar auch mit Mitwirkung von Bergeron.
Dieser Irrweg ist mehr als bedauerlich, denn unter schauspielerischen Aspekten war der Mann wohl ein großer und spielte unterschiedlichste Rollen und war nicht festzulegen.
In den 1950er-Jahren hatte er noch ein paar kleinere Rollen, aber in Hauptrollen konnte er sein Talent nicht mehr zeigen.
René Bergeron spielte in der Picpus-Verfilmung nicht mit. Auch die ihm zugedachte Rolle taucht in dem Buch nicht auf: Es gab einen kleinen Louis aus Belleville, aber ob das einem Louis Couteau, wie in dem Beitrag genannt wurde, entsprach, sei einmal dahingestellt.
Marie Aix (Germaine Poissonnet)
Also: Gegen Marie Aix war das Beschaffen von Informationen über Yvonne Ducos ein Kinderspiel. Mein Optimismus verpuffte innerhalb von wenigen Minuten, denn mochte man sie auch für einen Film vorgeschlagen haben, eine Filmrolle hatte die Dame wohl nie ergattert.
Eine erste Spur als Schauspielerin ist in der »Le Cri du peuple de Paris« zu entdecken, in der am 20. Dezember 1940 angekündigt wird, dass sie einen Auftritt mit anderen Kollegen in einem Theatre à l'Hôpital hat. Im »Paris-soir« vom 27. Juni wird ihr Einsatz in Racines »Phèdre« besprochen, Marie Aix wird jedoch nur in einem Nebensatz erwähnt:
Aber auch das Spiel von Mademoiselle Rochebonne und das Temperament von Mademoiselle Marie Aix bleiben gewiss nicht unbemerkt.
Im Anschluss wird noch das Adjektiv »reizend« hinterhergeschoben, was aber für alle zuvor genannten Schauspielerinnen gegolten haben dürfte. Eine lobende Erwähnung fand sie in der »Comœdia« vom 11. Oktober 1941, in der es heißt:
Unter all den jungen Menschen, die darauf brennen, auf die Bühne zu treten, nennen wir Lina Wally, Marie Aix, Andrée Kleber, Lucienne Laurence und drei vielversprechende Nachwuchsstars: Charles Carno, Jacques Richard und Michel Laucoy.
Auch im darauffolgenden Mai ist eine lobende Erwähnung für eine schauspielerische Darstellung zu finden, mit der sie es sogar in eine Zwischenüberschrift schaffte.
1943 gab es noch einige Erwähnungen und eine in einer Programmanzeige im Jahr 1944 in der »Comœdia«. Dann kehrte Ruhe ein und das ist für eine Schauspielerin sicher nicht ideal, es sei denn, dass dies eine bewusste Entscheidung war.
Bei der Recherche ist nicht der Eindruck entstanden, dass der Name »Marie Aix« ein sehr häufiger ist. Deshalb soll nicht vergessen werden zu erwähnen, dass sowohl 1939 wie auch 1953 der Name in Geburtsanzeigen auftaucht. Aber wann und wo die Schauspielerin geboren wurde und ihre Sterbedaten bleiben (vorerst) im Dunkeln.
Denn nach 1953 wird der Name nicht mehr erwähnt … und die geplante Figur der Germaine Poissonnet spielte in dem Roman keine Rolle.