Gesichtslose Frau

Ein Nachmittag, tausende Briefe


Die Antwort sollte so schnell wie möglich ermöglicht werden. Aber wie sollte man einen Mann finden, der keine Verwandten und Freunde hatte; sich in einer finanziell prekären Situation befand und kein Wohneigentum besaß? Genau! Man fragt einfach beim Finanzamt nach und die sagen einem, wie es um die monetäre Situation dieses wildfremden Menschen bestellt ist.

Da zuckt man schon mal zusammen und selbst wenn sich die damaligen Datenschutzverhältnisse mit den heutigen nicht vergleichbar sind, könnten Zweifel aufkommen, ob dieses Vorgehen – realistisch gesehen – von Erfolg gekrönt sein könnte. Bei Finanzbeamten müsste beispielsweise der gesunde Menschenverstand kurz die Frage aufblitzen lassen: »Warum soll ich das dem erzählen?«

Ich stelle mir auch den Amtsvorsteher vor, der eine solche Anfrage bekommt und entscheidet, einen Mitarbeiter für die Beantwortung abzustellen. Halten wir uns kurz vor Augen, dass es damals noch keine EDV gab und man nicht einfach eine Abfrage in den Computer eintippte und – schwuppdiwupp – die Antwort auf dem Bildschirm erschien.

Diese Gedankengänge überkamen mich aber erst, nachdem ich die folgende Passage las:

»Sie soll einen Brief aufsetzen und ihn heute Abend an alle Finanzämter in Frankreich schicken. [...] Tausende von hektographierten Briefen könnten noch heute Nachmittag verschickt werden. Allerdings weiß ich nicht, wie viele davon ihren Adressaten erreichen.«

Ich werde gleich zu dem »hektographierten« kommen, was mich triggerte. 

Ganz schön viel Arbeit

Zuvor will ich eine kleine Rechnung aufmachen: Nehmen wir an, Mademoiselle Berthe hat die Adressen der Finanzämter komplett vorliegen und muss diese nicht zusammensammeln, so bedingt die damalige Technik, dass jedes Schreiben in einen Briefumschlag muss. Selbiger sollte beschriftet werden, um einigermaßen erfolgreich zu sein. Eine weitere Annahme wäre, dass die Sekretärin der Agence O eine Super-Schreibkraft ist und sie würde für jeden Brief eine halbe Minute benötigen. Das, finde ich, ist ein sportlicher Wert. Eine Schreibmaschine hilft einem nicht viel weiter, denn man müsste den Briefumschlag zum Beschriften einspannen. Das macht es nicht schneller.

Die Dame soll von uns nicht überfordert werden, deshalb nehmen wir 1000 Briefe und damit Adressen an: Sie würde dafür 500 Minuten benötigen, über acht Stunden – ohne Pause, ohne Hilfe. Émile hatte von Tausenden Schreiben geredet, die an diesem Nachmittag versandt werden sollten. Er unterhielt sich mit Torrence beim Mittag. Die Hälfte des Tages war schon rum und die Sekretärin wusste noch nichts von ihrem Glück.

Vor einiger Zeit habe ich mich über die unrealistische Darstellung von technischen Sachverhalten in modernen Kriminalfällen ausgelassen – es scheint mir kein neuartiges Phänomen zu sein. Berthe wäre in den Streik getreten, wenn sie das hätte bewältigen müssen.

Hektografie

Die Sekretärin sollte die Briefe hektografieren und ich war ein wenig elektrisiert, da ich den Begriff bisher nie gehört hatte.

Ein Kollege von mir meinte einmal, er könne Ossis und Wessis auseinanderhalten, in dem er sie fragen würde, wie sie einen bestimmten Wert runden würden – beispielsweise 30,5. Probieren Sie es, es funktioniert (Alter Ossi: 30; Wessi: 31). Ein weiterer Test könnte der Begriff Hektografie sein. Denn während das im Westen bis in die 1990er-Jahre ein gängiges Verfahren, insbesondere an Schulen, war, um Kopien von Schriftstücken herzustellen, war das im Osten nicht üblich. Wo wäre man in der DDR hingekommen, wenn man den Leuten ein nicht kontrollierbares Verfahren an die Hand gegeben hätte, mit dem man Schriftstücke vervielfältigen hätte können?

Es hat bekanntlich nicht geholfen, diese Technik nicht zuzulassen. Aber vielleicht wäre das Ende schon schneller gekommen, wenn der Widerstand die Vervielfältigungstechnik zur Hand gehabt hätte. 

Die Technik beruht darauf, dass man entweder mit einer speziellen Tinte auf ein Blatt Papier schreibt oder mit der Schreibmaschine auf ein Medium schreibt, welches mit einer gelatineartigen Beschichtung versehen ist, und von diesem werden dann Abzüge auf saugfähiges Papier erstellt. Die Verfahren, mit denen das möglich ist, sind unterschiedlich und änderten sich auch mit der Zeit.

Die Hektografie gewann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung. Als die Berthe ihren Dienst in der Agence verrichtete, war diese Technik keine neue bahnbrechende Innovation mehr, sondern konnte fast schon als alter Hut gelten (die Erfindung eines praktikablen Kopierers stand zu dem Zeitpunkt jedoch noch aus). Die Qualität der hergestellten Kopien kann man nur mäßig nennen. Es wurde nicht schwarz gedruckt, die Schrift hatte einen violetten Ton. Je mehr Kopien man erzeugte, desto matschiger sah das Schriftbild aus. Fotografien konnte man mit diesem Verfahren nicht herstellen. Das höchste der Gefühle waren Strichzeichnungen.