»Mademoiselle X...«

Ein unerwarteter Sieger


Da gibt es doch nichts zu sagen: Irgendwann erfand Simenon Maigret und dann entwickelte sich der Kosmos. Neue Figuren kamen von Zeit zu Zeit dazu und bevölkerten die Welt um den Kommissar, und damit die der Leserinnen und Leser. Pustekuchen! So leicht ist es dann doch nicht, und irgendwie beschleicht einen das Gefühl, dass Simenon diese Welt behutsam und vorsichtig entwickelte.

Wann wurde der Kommissar das erste Mal erwähnt? Die Frage ist nicht ganz so leicht zu beantworten, wie sie auf den ersten Blick scheint. In der Geschichte »L’Amant sans nom« (dt.: »Der namenlose Liebhaber« – es sei erwähnt, dass die Geschichten höchstwahrscheinlich nie in deutscher Sprache erschienen sind, und die Übersetzung des Titels nur ein netter Service ist) tritt ein Mann namens Yves Jarry gegen einen Polizisten Nr. 49 an. Das mit der Nummerierung von Polizisten scheint mir keine besonders gute Idee zu sein, zumindest dann nicht, wenn sich ein Haufen Polizisten in einer Story tummelt. Ist er auch ohne Namen, so zeichnet sich ein Bild aus den Schilderungen ab, das dem von Maigret zu ähneln scheint. Das könnte man als erste Nennung durchgehen lassen. Erschienen ist dies im Jahr 1929 – wann genau in dem Jahr, das lässt sich nicht sagen. 

In der Geschichte »Les Bandits de Chicago« ist die Hauptfigur immer noch nicht der Kommissar, sondern ein Privatdetektiv. Jackie Smitt wird als Vorreiter des großen Kommissars gesehen, weil er versuchte, sich in den Täter hineinzuversetzen. Aber ein Maigret ist er natürlich noch nicht. Immer noch nicht mag man fast sagen, aber es hilft nichts … 

… auch in »Katia, acrobate« haben wir es nicht mit dem Kommissar als Hauptfigur zu tun. Aber in dem Kommissar Deffoux formt sich langsam ein Bild. Der Mann ist verheiratet und ähnelt in seinem Umgang mit Menschen dem Kommissar. Stellenweise wird auch sein Aussehen als dem von Maigret ähnlich beschrieben. Hier sind wir schon bei einer Geschichte, die 1931 erschienen ist. 

Der Roman »L'Homme à la cigarette« gilt schon als Pre-Maigret. Der ebenfalls im Jahr 1931 erschienene Titel hat aber Maigret noch nicht als Titelfigur. Die Beschreibung der Handlung klingt teilweise abstrus und gar nicht nach dem, was wir aus den Geschichten um Maigret kennen. Wenn ich einen Tipp abgeben sollte, würde ich sagen, dass dieser Roman nicht auf der Veröffentlichungsliste ganz oben steht. 

Dann erschien 1930 der Roman »Train de nuit«, in dem wirklich Maigret auftauchte, und den wir alsbald auch in deutscher Sprache lesen können. Name, Aussehen und Auftreten waren schon nah dran, an dem, was wir später von »unserem« Maigret kennen. Dieser Geschichten folgten »La Jeune Fille aux perles«, »La Femme rousse« und dem schon in deutscher Sprache erschienenen »La Maison de l'inquiétude« (dt.: »Maigret im Haus der Unruhe«).

Der Richter

Viele Schriftsteller sind der Meinung, dass es einen Unsympathen geben muss in einer Story. Simenon macht das auch hin und wieder in den Maigrets. Ich habe als solchen sehr oft den Untersuchungsrichter Coméliau identifiziert. Die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden, an der Figur mögen sich jetzt nicht alle reiben. 

Die Figur wird nicht mit der Detailfülle beschrieben, wie das bei anderen Figuren passiert, und es gibt auch keine Story, in der der Untersuchungsrichter in eine Bredouille gerät, aus der ihr Maigret heraushelfen müsste, und auf diese Art man dem Juristen näher kommen würde. Details aus seinem Leben werden nur sehr spärlich gestreut.

Umso überraschender mag es erscheinen, dass es die Figur aus dem Maigret-Universum ist, die das längste Vorleben hat. Seine erste Erwähnung hat der Untersuchungsrichter in dem Roman »Mademoiselle X…«, welcher vom 14. März 1928 in der Zeitung »L’Œuvre« erschienen ist. In dem Fortsetzungsroman wird er nur erwähnt und ist keine handelnde Person. Der Name hat Simenon aber sehr gut gefallen, dass auch er von der Pseudonymwelt »Christian Brulls« in die von »Georges Sim« sprang und in der Geschichte »La Femme qui tue« eine Erwähnung fand. Die Betonung liegt auf Erwähnung, denn seinen ersten Auftritt mit Intervention hat der Richter in »Nicole et Dinah« (später dann »En robe de mariée«). Das aber im gleichen Jahr wie seinen ersten Auftritt. Simenon musste ihn schon lieb gewonnen haben – wenn schon nicht den Charakter, dann doch zumindest den Namen.

Die Unterermittler

Nachdem nun also überraschenderweise der Untersuchungsrichter Coméliau vor dem Kommissar die Welt erblickt hat, soll ein kurzer Blick auf die Co-Detektive von Maigret geworfen werden. 

Die Namen Lucas und Torrence werden das erste Mal in dem Roman »L’Inconnue« (1930) erwähnt. Dabei bekleidete Lucas den Rang eines Kommissars und Torrence den eines Brigadiers. Simenon verwendete den Namen und Rang Lucas auch in anderen Romanen, jenseits der Maigret-Welt. Und da er ihn als Wegbegleiter Maigrets auch sterben ließ – Lucas wohlgemerkt – kann es auch sein, dass damit eine andere Person gemeint sein könnte.

In »Train de nuit« assistierte der Inspektor Torrence Maigret bei der Klärung des Falls, bevor in dem Roman »Matricule 12« wieder ein Kommissar Lucas das Steuer in der Hand hält und er von den Inspektoren Torrence und Sancette Unterstützung erhält.

In den Romanen »La Femme rousse« ermittelt Maigret zusammen mit Torrence als Brigadier, was er auch in »L’Homme qui tremble« tut – in letzterer Geschichte stehen sie unter der »Knute« von Coméliau.

Im sogenannten 0. Fall – »Maigret im Haus der Unruhe« – wurde der Kommissar von Torrence unterstützt.

Es erschienen noch eine Reihe von Romanen, auch nachdem Simenon seinen Maigret offiziell zur Welt gebracht hatte, die einen Eingriff in dessen Welt erkennen ließen. Ihnen allen war eigen, dass sie unter den Autorennamen »Georges Sim« oder »Christian Brulls« veröffentlicht wurden. So wird in dem Roman »Fièvre« Torrence zu einem Kommissar »befördert« und er hat eine Ehefrau. 

Nur ein Bruchteil der genannten Romane wurde später erneut veröffentlicht. Die im ersten Abschnitt genannten Pre-Maigrets wurden in einem Band veröffentlicht, der aber nur in französischer Sprache vorliegt: »Maigret entre en scène« und ist Teil der Reihe »Simenon avant Simenon«. Die hier aufgeführten Informationen stammen zu einem großen Teil aus diesem Band, welches heute nur noch antiquarisch erhältlich ist.