Eine halbe Stunde


Heute ist es natürlich ganz anders: Wird ein Arzt zu einem Verstorbenen gerufen und von einem Ermittler gefragt, was denn die Todesursache ist, dann äußert dieser sich ganz vorsichtig. Zumindest ist das im Fernsehen so. Die Kollegen in den etwa älteren Büchern agieren offener und geben recht schnell preis, was sie für die Todesursache halten. So auch der Doktor, der zu Kapitän Joris gerufen wurde.

​Die Leser- und Zuschauerschaft ist aber auch kritischer geworden. Bei uns zu Hause gibt es lustige Szenen beim Schauen eines Krimis: Da wird irgendetwas untersucht und nach Sekunden kommt der Laborbefund und aus dem Sessel unweit von mir, schnauft meine Frau: »Genau, mit einem Gaschromatographen. Damit werden die das auf alle Fälle herausbekommen!«, dann rennt der Ermittler damit zu einem Typen, der vor einem Computer sitzt und fragt ihn, wer der Täter sein könnte und während auf dem Bildschirm die gesammelten Datenbanken von FBI, CIA, NSA und ADAC abgefragt werden, auf dem Bildschirm die Bilder von möglichen Verdächtigen vorbeiflitzen, während der coole Computertyp schnell noch Einschränkungen seiner Abfragen eingibt, stöhne ich auf der Couch auf: »So wird es sein! Gleich haben sie ihn!«. Und ja, sie haben ihn.

Gut möglich, dass nicht alle kritischer geworden sind.

Was haben wir also diesmal? Der Doktor wird zu Yves Joris gerufen. Maigret erfährt davon als er in der Kneipe ist und eilt sofort zu ihm. Der Mann wurde schließlich angeschossen, wieder nach Hause gebracht und war in einem mehr oder weniger hilfslosen Zustand. Es wäre auch für den Kommissar sehr ärgerlich, wenn der Mann jetzt sterben würde.

Joris sieht schon ganz grün im Gesicht aus, als Maigret ihn in seinem Zimmer sieht und liegt im Sterben.

»Wenn ich mich nicht sehr täusche, ist es Strychnin.«

​Der Arzt hat also eine recht zügige Prognose abgegeben. Joris indes sieht nicht nur sehr ungesund aus, er windet sich auch unter Zuckungen. Ein Blick in die Wikipedia bringt zu Strychnin eine ganz Reihe von Infos.

Im Gegensatz zur Darstellung in Kriminalromanen eignet sich Strychnin schlecht zum Mord durch (orale) Vergiftung, da es noch in einer Verdünnung von 1:130.000 geschmacklich wahrnehmbar ist.

Wie es sich für ein Gift, das was auf sich hält, gehört, schmeckt es auch nicht gut, sondern wirklich bitter. Man nimmt es also wahr. Es ist jedoch geruchlos. Bei Joris könnte es natürlich durchaus sein, dass er durch die erlittene Schussverletzung nicht nur seine Sprache verloren hat, sondern auch noch ein paar Sinne. So, dass er wirklich nicht wahrgenommen hatte, dass sein Wasser schlecht schmeckte. Dann setzten die Vergiftungssymptome ein, der Mann konnte sich nicht richtig bewegen und da er die Sprache verloren hatte, konnte er nicht mal rufen.

Gleiches Gift, anderer Ort

Das Trinken von Wasser war so eine Routine von Joris, denn seine Haushälterin Julie sorgte immer dafür, dass er zur Nacht Wasser am Bett hatte. In dem Fall spielte die Beleuchtung in dem Zimmer keine große Rolle, denn wenn es Routine war, hätte Joris auch blind zugreifen können. Wäre das nicht so gewesen, hätte er vielleicht gesehen, dass etwas in dem Wasser war.

Wie damals Doktor Michoux in Concarneau, der einen Schluck von seinem Pernod nehmen wollte und skeptisch wurde, als er sah, was sich in seinem Glas befand und seine Trinkkumpanen warnte.

Der Doktor schaute finster. Er starrte noch immer in sein Glas. Er stand auf und nahm die Pernod-Flasche aus dem Wandschrank, bewegte sie im Licht, und Maigret erkannte zwei oder drei kleine weiße Körnchen oben auf der Flüssigkeit.

​Die Beschreibung trifft es ganz gut. Strychnin in seiner reinen Form kommt in kristalliner Form, so dass man meint, Körnchen zu sehen.

Nun ist es so, dass die Löslichkeit dieser Kristalle in Alkoholen sehr gut ist, während es schlecht wasserlöslich ist. Da wäre es wahrscheinlicher, dass der Kapitän es gesehen hätte, als der Doktor in der Kneipe. Es ist aber gut, eine Chemikerin im Haus zu haben, denn die wandte daraufhin ein, dass es ja sein könnte, dass der Täter zu viel von dem Gift in den Pernod getan hat, so dass die Lösung schon gesättigt war. Außerdem wäre es möglich, dass das Gift mit anderen Stoffen gestreckt war. Auch das würde die Löslichkeit beeinträchtigen.

Das Nippen ist wohl nicht so gefährlich, denn auch hier macht die Dosis das Gift. In geringer Form wirkt es anregend, weshalb es auch als Doping-Mittel verwendet wurde. Besonders gut hat mir dabei die Geschichte um den Marathon-Läufer Thomas J. Hicks gefallen, dem während des Laufs Brandy verabreicht wurde, der mit Strychnin versetzt war. Immerhin gewann er so olympisches Gold und wenn es nicht geholfen hat, dann hat es zumindest nicht geschadet. Gewonnen wird Strychnin unter anderem aus der Brechnuss, die in wärmeren Gefilden in Asien und Afrika verbreitet ist. Die Samen der Pflanze wurden und werden sowohl in der Medizin wie der Schädlingsbekämpfung verwendet.

Besagter aufmerksame Doktor holt sofort den Apotheker und trägt ihm auf, die Flasche zu untersuchen. Er hatte auch schon den Verdacht, dass es Strychnin sein könne. Für mich geschieht dann ein wahres Wunder, denn der Apotheker kommt wieder und verkündet:

»Irgendwer hat es in die Flasche getan, vor höchstens einer halben Stunde.«

​Jetzt fragt man sich vielleicht, was das Wunder ist. Die Antwort ist einfach: die Zeit. Es war damals schon wie heute. Alles geht zackig und es bleibt kaum Zeit: Eine Probe wird in eine Maschine geworfen und nach kurzer Zeit blinkt sie und offenbart: »Das ist XYZ mit Spuren von ABC und das kann es nur in 123 geben. Bei Vollmond.« Oder nach zwanzig Sekunden hat man eine Übereinstimmung mit in einer Reihe in der Datenbank gefundener Verdächtiger. Das ist der Moment für das kollektive »Genau!«.

Apotheker verwenden Strychnin für die Herstellung von Arzneimitteln. Der Stoff dürfte dem Apotheker also durchaus geläufig gewesen sein. Wenn man sich die Szenerie anschaut, dann ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass der Apotheker mit diesem Ergebnis in der Zeit hätte wiederkommen dürfen. Dreißig Minuten unter Einbeziehung von:

  • Servieren,
  • kurzer Diskussion,
  • dem Heranziehen des Apothekers,
  • der Untersuchung des Apothekers und
  • der Wiederkehr des Apothekers.

Das ist doch eine sehr sportliche Zeit, nicht wahr?

​Es gab durchaus Morde mit Strychnin, sogar Serien-Mörder bedienten sich dieser Methode (wie man dem Wikipedia-Artikel entnehmen kann). Strychnin-Morde waren nicht gerade eine Epidemie und es ist nicht wahrscheinlich, dass jeder Apotheker aus dem Kopf wusste, wie man Strychnin nachweist. Er hatte also sehr schnell herausfinden müssen, wo die Nachweis-Methode beschrieben ist, diese dann studieren, um dann den Aufbau vorzunehmen. Hinzu kommt, dass eine Reihe von Zutaten und Gerätschaften notwendig waren, um den Nachweis zu führen.

Die Abbildungen zeigen zwei Varianten, wie man Strychnin zur damaligen Zeit nachgewiesen hat. Beide vermitteln nicht den Eindruck, als würde man sie im Vorbeigehen erledigen.

Eine Mode

Die Geschichte um den geheimnisvollen Kapitän schrieb Simenon auf der »Ostrogoth« in Ouistreham. Ideal, wenn es um das Beschreiben der örtlichen Gegebenheiten ging; der Zugriff auf Fachkundige in Pharmazie und Chemie war da schon ein wenig schwieriger. La Ferté-Alais, in dessen Nähe die Geschichte um den gelben Hund entstand, befindet sich näher an Paris, aber vielleicht dort nicht so nah, dass sich Simenon hätte Rat einzuholen können.

Die Konsistenz und die Symptome werden von Simenon korrekt beschrieben, das Gift wirkt so. Wenn Simenon gewusst hätte, dass es eine schlechte Giftwahl war, hätte er sich vielleicht umentschieden. Aber er hatte schließlich noch keine Wikipedia, wo er hätte schnell nachschauen können, und dann hatte er auch »nur« eine Malerin im Haus, die im Gegensatz zu einer Chemikerin, keine Ratgeberin bei dem Thema sein konnte.

Simenon war nicht der einzige Schriftsteller, der sich für Strychnin als Tatwaffe in seinen Geschichten entschied. Es war mal so eine Mode.