Bildnachweis: Étoile du Nord - Kinoaushang
»Étoile du Nord«
Der Film ist wirklich schon gut abgehangen: 1982 kam er in die Kinos und in ihm spielten zwei Stars, die damals die Leute vor die Leinwände locken konnten: Simone Signoret und Philippe Noiret. Er wurde hierzulande auch unter dem Titel »Das Geheimnis des Rubins« veröffentlicht, unter diesem Namen hatte ich ihn digital archiviert. Wer das Buch gelesen hat, wird sich über den Filmtitel wundern.
In der Tat ist die Benennung des Streifens schon ein erstes Indiz dafür, dass sich die Story von der Vorlage (»Der Untermieter«, frz.: »Le locataire«) unterscheidet. Im Mittelpunkt des Filmes steht Edouard Binet und ist Franzose. Mit exotischen Bildern wird gestartet, die Geschichte beginnt in Ägypten. Der Mann hatte den Verlust einer guten Freundin zu beklagen, die eine bekannte Sängerin gewesen war, und ihm einen roten Rubin hinterlassen hat.
Edouard sah keinen Grund mehr, in dem Land zu bleiben, und schifft sich nach Frankreich ein. Bevor er zu Bord geht, lernt er die noch recht junge Sylvie Baron kennen, der er bei der Einschiffung behilflich ist. Die Belgierin ist Tänzerin und ebenfalls auf der Rückreise. Edouards Unterstützung geht weiter, denn er stellt eine Verbindung zu einem reichen Mann namens Nemrod Lobetoum her, der die Tänzerin zu seiner Mätresse erklärt. Gleichzeitig schläft sie aber auch mit Edouard.
Sie will nach Belgien, Lobetoum wohl auch. Also begleitet als unsichtbarer Dritter auch Edouard das Paar nach Brüssel. Geld hat er keines, er wird ein wenig von Sylvie alimentiert. Das bei Simenon sehr beliebte Motiv des »Mitschläfers« wird in dieser Geschichte ein weiteres Mal praktiziert, denn er kommt auch hin und wieder in dem Zimmer der Frau unter. Ihr Gönner schläft nebenan in einer Suite und durch ein Schlüsselloch beobachtete Edouard, wie Lobetoum Geld übergeben bekommt und hört mit, dass sich dieser mit dem Zug nach Paris begeben will.
Wohlhabend wie Lobetoum ist, nimmt er natürlich den Étoile du Nord, womit klar wird, wie der Film zu seinem Originaltitel gekommen ist. Diesen Zug soll Lobetoum nicht mehr lebend verlassen, denn er wird von Edouard erschlagen und beraubt. Dieser begibt sich zurück nach Brüssel zu seiner Geliebten, prahlt ein wenig mit dem Geld und bekam nicht mit, in was für eine Lage er Sylvie brachte. Sie war es jedoch, die die Idee hatte, ihn bei ihren Eltern unterzubringen, die in einer kleinen Stadt eine Pension betrieben. Und sie gab ihm mit auf dem Weg, dass er sich ruhig verhalten solle, sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen möge und das Geld nicht verprasse.
Und eigentlich, fast wie im Buch, hält er sich an die meisten der Ratschläge.
Das Problem mit dem Geld, das sollte sich alsbald herausstellen, war, dass die Nummern der Geldscheine bekannt waren. Somit waren sie zumindest zu dem Zeitpunkt so gut wie nutzlos, denn eine einfachere Möglichkeit ihm auf die Spur zu kommen, gab es nicht. Für Sylvie war das aber nicht das einzige Problem: Sie sah es als problematisch an, dass er sich wie ein Sohn in der Familie verhielt und sich von der Mutter ins Herz schließen lässt. Die von Simone Signoret gespielt wurde.
Die Perspektive der Zuschauer:innen
Bisher habe ich noch nie die Funktion genutzt, mit der man Filme schneller abspielen lassen kann. Es ist gar nicht so, dass ich die Geschichte schlecht fand, aber sie war langweilig. Gerade in der ersten Hälfte zieht es sich quälend. Der eine oder andere Schnitt und manche Kürzung hätten geholfen. Wie man aus einer überschaubaren Vorlage ein derart langen Film machen konnte, ist mir schleierhaft (über zwei Stunden zieht sich die Story). Andererseits meinte ein Freund, man möge nur schauen, was Peter Jackson aus »Der Hobbit« gemacht hat – so gesehen hat man noch Glück.
Ich mag Philippe Noiret sehr. Zum Zeitpunkt der Entstehung des Streifens war er schon über fünfzig Jahre alt. Er hat zuvor Vaterfiguren gespielt, auch in einer Simenon-Verfilmung – es ist verdammt schwierig, ihm diese Rolle des Unbeholfenen abzunehmen. Und es stellt sich die Frage, warum die schöne, junge Frau sich auf eine Beziehung mit ihm eingelassen hat. Ein wenig Dankbarkeit, das mag sein, aber an irgendeiner Stelle hört es auf. Diese Konstellation erscheint nicht plausibel.
Und dann die langen Rückblenden auf das Leben in Ägypten. Sie erzielen bei dem Zuschauenden den gleichen Effekt, wie bei den jungen Männern, die in dem Film den Geschichten von Edouard zuhören müssen. Langeweile. Abscheu. Ihn bei diesen Treffen erzählen zu lassen, was er erlebt hat, wäre auf jeden Fall billiger gewesen und man hätte die Reaktionen der Zuhörenden besser einfangen können.
Die Geschichten, die er zum Besten gibt, kommen bei einer Person sehr gut an: Madame Baron. Diese Frau, immer im Dienst der Familie, die nie ihr Land verlassen hat, und für die wahrscheinlich auch Urlaub ein Fremdwort war, sie wird von den Geschichten des Mannes gefangen. Er öffnet ihr die Welt. Die Rolle der Mutter ist ihr auf den Leib geschneidert. Sie ist der Mittelpunkt der Familie und die besteht nicht nur aus ihren Töchtern und ihrem Mann, sondern auch aus ihren Pensionsgästen, die sie hegt und pflegt.
Sie bekommt nicht mit, wie sich ein Sturm über ihrer kleinen Herberge zusammenbraut, da sie einen Mörder beherbergt und die Polizei auf der Spur ist. Und als sie es mitbekommt, schafft sie es nicht, Edouard konsequent des Hauses zu verweisen, um den Frieden wiederherzustellen.
In der zweiten Hälfte des Films ziehen Spannung und Intensität an. Da kommt man nicht mehr auf die Idee, eine flottere Geschwindigkeit zu wählen. Als Zuschauer:in muss man halt bis zu diesem Punkt durchhalten. Es mag dran liegen, dass Simone Signoret präsenter wird und man sich fragt, ob der Konflikt sich durch den Lauf der Ermittlungen der Polizei aufgelöst wird oder durch Verrat.
Die Vorlagen-Perspektive
Um Gottes Willen – ein Rubin? Es gibt keinen Edelstein in der Vorlage! Elie Nagéar will ein Teppichgeschäft abwickeln, und scheitert damit. Deshalb war der junge Mann in Brüssel gelandet. Auch er gabelte Sylvie unterwegs auf und unterstützte sie auf der Reise. Und dann blieb man halt zusammen. Im Nachbarzimmer gab es einen reichen Mann (hier: van der Cruyssen), der einen Blick auf die Tänzerin geworfen hatte, aber es war zu nichts gekommen. Auch hier war es nur Zufall, dass der spätere Täter von dem Geld und der Reise erfahren hat.
Explizit wird in dem Film Lobetoum in den Étoile du Nord gesetzt und in diesem lässt er sich ermorden. In diesen hätte man Edouard nie einsteigen lassen, der hatte kein Geld, um sich diese Reise leisten zu können. Zudem spielte der Zug überhaupt keine Rolle in dem Buch: In diesem handelte es sich um eine »stinknormale« Verbindung, in der Lobetoum einen Platz in der ersten Klasse hatte.
War es Vorsatz? Im Film ist das nicht klar. Die Waffe, die Edouard wählte, war halt vorhanden, weshalb er sie nutzen konnte. Anders Elie: Der hatte sich vorher ein Werkzeug gekauft und mit in den Zug genommen. Er hatte gewisse Ambitionen.
In der literarischen Vorlage gibt es zwei Stränge im zweiten Teil: Da ist das Leben von Elie, der es sich wie ein Hahn im Korbe gemütlich gemacht hat. Und man kann Sylvie verfolgen, die versucht, das Geld zu waschen, was Elie geraubt hatte, und dabei in das Visier der Polizei gerät. Im Film wird Sylvie nur noch ein Thema, wenn sie die Mutter besucht, und bemühte, Edouard dazu zu bewegen, das Haus zu verlassen.
Hier wie da hatte er kein Interesse daran und bleibt bis zum Ende.
Die Spannungen, die sich zwischen dem mörderischen Gast und den anderen Logierenden aufbauen, werden in dem Film nicht thematisiert. In der Vorlage sind diese schon viel eher eingeweiht und so nahmen die Konflikte zu. Elie bekam wirklich Kontra. Diese Eskalation findet ebenfalls in der Verfilmung nicht statt. Auch das Verhältnis zu der Schwester von Sylvie – Antoinette –, die noch im Hause lebt, wird im Film zurückgestellt. Vieles, was Sylvie in diesem »organisiert«, erledigte laut Buch Antoinette.
Wird die Zuggeschichte einmal links liegen gelassen und auch die etwas komische Geschichte um den Rubin, so ist man bei alledem, was sich im Haus der Familie Baron abspielt, sehr nah an der Vorlage geblieben. Geschadet hat das auf keinen Fall.
Fazit
Wer es schnell und flott erzählt haben will, der sollte das Buch nehmen. Der Film ist über lange Strecken behäbig und gerät erst in der zweiten Hälfte unter Dampf. Das macht ihn aber nicht mies oder unansehnlich, nimmt jedoch das Thriller-hafte des Originals.
Man findet keine schlechten Schauspieler in dem Film. Signoret und Noiret liefern als Stars ab. In meinen Augen ist Noiret deshalb eine Fehlbesetzung, weil er zu alt ist. Auch wenn er das Infantile des Edouard Binets gut dargestellt hat. Aber sowohl die Schwestern wie auch der Vater spielen ihre Rolle hervorragend. Die anderen Darsteller sind Statisten dagegen, gerade bei den Pensionsgästen ist das schade – sie hätten mehr in den Vordergrund gestellt werden sollen, um die Großfamilie darzustellen, die Madame Baron vorschwebte.
Von der etwas schmutzigen Bergbaustadt Charleroi ist wenig zu sehen. Dafür wird aber das Milieu der Pension sehr schön dargestellt. Will man wissen, wie es in der Kindheit Simenons zugegangen ist (minus Mörder), so bekommt man dafür mit der Geschichte eine schöne Vorlage. Entweder in den Bildern von Regisseur Pierre Granier-Deferre oder, wenn man nur zum Buch greift, mit den Worten des Schriftstellers.